Welchen Fisch kann ich noch guten Gewissens essen?

 

Wollten wir es uns leicht machen, könnten wir es bei der Antwort „Karpfen“ belassen. Stattdessen zog ich los in die Welt der Wasserbewohner, meine Antwort ist dann doch etwas länger ausgefallen


Meinen ersten Fisch seit Jahren esse ich im Halbdunkel. Es läuft Deutschland gegen Polen, EM-Vorrunde, meine Freunde und ich haben uns auf dem Sofa und Boden unseres Wohnzimmers verteilt, den Teller balanciere ich im Schneidersitz. Darauf liegt neben köstlich gebratenem Gemüse das geräucherte Filet eines Fisches, dessen Namen ich heute erst gelernt habe. Maräne, angenehm. Darf ich Sie nun essen? Für mich ist das ein großer Moment. Das helle Fleisch ist butterweich und trocken zugleich, ich löse es mit einem letzten Seufzer der Überwindung von der ockerfarben glänzenden Haut. Dann esse ich ein Lebewesen, von dem ich genau weiß, woher es kommt, wer es aus dem Netz gezogen, auf den Kopf geschlagen und bäuchlings aufgeschnitten hat, in welchem Räucherschrank es von Buchenrauch eingehüllt und von wem es auf Eis gelegt wurde. Der Geschmack ist mir überraschend vertraut, obwohl meine letzte Fischmahlzeit so lange zurückliegt, dass ich mich nicht mehr daran erinnere.

 

Denn eigentlich bin ich Vegetarierin. Jahrelang hatte ich auf die Frage, welchen Fisch man bedenkenlos essen kann, eine sehr einfache Antwort: Gar keinen. Ich habe großen Respekt vor dem Leben, auch vor dem eines Fisches. Es aus Eigennutz zu beenden, kommt mir falsch vor. Dass es sich nun trotzdem okay anfühlt, diese Maräne zu essen, ist das Ergebnis meiner Suche nach weniger dogmatischen Antworten als der von Vegetariern und Veganern.

 

Ich wusste, es würde nicht einfach werden. Unsere Kontinente werden von knapp 1,4 Milliarden Kubikkilometern Salzwasser umflutet, dazu kommen die Binnengewässer. Darin leben schätzungsweise 35.000 Fischarten, 4000 bis 5000 davon essen wir Menschen. Während wir in den Sechzigerjahren mit einem durchschnittlichen Jahreskonsum von 9,9 Kilogramm pro Erdenbürger eher zurückhaltend waren, verschlingen wir heute 19,2 Kilogramm. Der globale Fischhunger wächst mit 3,2 Prozent im Jahr doppelt so schnell wie die Zahl der Menschen, errechnete die Welternährungsorganisation (FAO). Die Wildfänge wachsen aber nicht im gleichen Maße mit: Sie stagnieren seit einigen Jahren laut FAO bei etwas mehr als neunzig Millionen Tonnen pro Jahr, dreißig Prozent der Bestände stuft die Organisation als überfischt ein. Laut Wissenschaftlern der Universität British Columbia liegt der globale Fang aufgrund undokumentierter und illegaler Fischereien allerdings weitaus höher – und damit auch die Überfischung. Der wachsende Fischhunger wird vor allem durch riesige industrielle Farmen gestillt. In den letzten zwanzig Jahren wuchs das Produktionsvolumen der Aquakulturen auf mehr als 66 Millionen Tonnen an. Massentierhaltung unter Wasser sozusagen. Warum sie trotzdem – sogar vor allem – die Meere leert, sollte ich später verstehen.

 

Mein erster Rechercheweg führt mich nur ein paar Gehminuten von der Redaktion zum Hamburger Fischmarkt. Am Elbufer drängen sich dicht an dicht Fischbuden, maritime Restaurants, Sushiläden und Fischhändler. Meerestiere werden hier als etwas Edles zelebriert, mittags quetschen sich Touristen und Wohlhabende auf die engen Sitzbänke, wählen einen der auf Eis gelegten Meeresbewohner aus und trinken dazu Weißwein. Ich bestelle Bratkartoffeln und Salat. Meiner Begleiterin versuche ich mit meinen Fischratgeber-Apps, die ich mir zu diesem Zweck heruntergeladen habe, bei ihrer Wahl zu helfen.

 

Die Umweltschutzorganisationen Greenpeace und WWF listen in ihren Ratgebern seit vielen Jahren die gängigsten Fischarten auf und bewerten, ob man sie guten Gewissens essen kann oder nicht. Damit wollen sie zum einen uns Verbraucher dabei unterstützen, die richtige Wahl zu treffen. Zum anderen üben sie damit Druck auf die Fischereien aus. Bei der strengen Bewertung von Greenpeace bleibt nur der Karpfen als generell empfehlenswert übrig, zu Hering und Afrikanischem Wels raten die Umweltschützer nur mit Einschränkungen. Alle anderen Arten seien allenfalls zu verantworten, wenn sie aus bestimmten Meeresgebieten stammten und schonend gefangen wurden. Der WWF lässt auch den Afrikanischen und den Europäischen Wels, die Sprotte, den Schwarzen Seehecht, die Nordseekrabbe, den Flusskrebs und die Auster als „gute“ und „zweite Wahl“ zu. Bei allen anderen Arten besteht die Gefahr, ein Exemplar mit der roten Bewertung „lieber nicht“ zu erwischen.

 

Die Wahl meiner Begleiterin aber fällt auf Alaska-Seelachs. Eigentlich heißt der Pollack und ist mit Lachs nicht näher verwandt, sondern vielmehr mit dem Kabeljau. Weil dessen Bestände stark zurückgegangen sind, werden nun statt aus Kabeljau hauptsächlich aus Pollack Fischstäbchen gemacht. Das macht ihn – tiefgefroren und paniert – zum meistgegessenen Fisch Deutschlands. Bei Greenpeace fällt er komplett in die rote Kategorie, der WWF deklariert ihn als zweite Wahl, wenn er im östlichen Teil der Westlichen Beringsee gefangen wurde. Wir fragen bei der Bedienung im blau-weiß gestreiften Fischerhemd nach, wo der Fisch denn nun herkommt, einige Minuten später kehrt sie mit der Information „Dänemark“ zurück. Alaska-Seelachs aus Dänemark? Wir lächeln uns alle miteinander ratlos an.

 

Während wir auf unsere Bestellung warten, fällt mir noch ein kleines blau-weißes Zeichen in der App des WWF auf, das den Alaska-Seelachs empfehlenswert machen würde. Es ist das Siegel des Marine Stewardship Council (MSC). Der WWF gründete die Organisation 1997 gemeinsam mit dem Unilever-Konzern, mittlerweile ist sie unabhängig. Das Nachhaltigkeitssiegel brachte viel Bewegung in die Fischereibranche. Inzwischen zertifiziert der MSC 289 Fischereien weltweit, die gemeinsam mehr als neun Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte anlanden – ungefähr zehn Prozent der gesamten Fangmenge. Die Fischereien müssen sicherstellen, dass die Fischbestände „in einem guten Zustand“ sind, sie müssen möglichst schonendes Fanggerät verwenden, wenig Beifang fischen und ein „verantwortungsvolles Management“ vorweisen.

 

Was erst einmal gut klingt, bewerten Kritiker als zu lasch. So beanstandet Greenpeace, dass der MSC Grundschleppnetze nicht zu den zerstörerischen Fischereimethoden zähle, trotz der verheerenden Folgen für das Ökosystem am Meeresboden. Außerdem lasse der MSC manchmal die Befischung von Beständen zu, die bereits erschöpft sind. Auch unter Wissenschaftlern ist das Siegel umstritten. Im Frühjahr veröffentlichte Rainer Froese, Meeresökologe am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, gemeinsam mit Kollegen eine interdisziplinäre Studie in der Fachzeitschrift Marine Policy mit dem Ergebnis: Elf von 31 untersuchten Fischbeständen mit dem MSC-Siegel wurden stärker befischt als ökonomisch sinnvoll und ökologisch vertretbar wäre. „Beim Kauf sind Fischprodukte mit MSC-Siegel zwar Produkten ohne Siegel vorzuziehen, doch um das entgegengebrachte Vertrauen der Verbraucher weiterhin zu erhalten, muss der MSC an seiner Glaubwürdigkeit arbeiten“, schloss Erstautorin Silvia Opitz vom Geomar. Der MSC wirft den Autoren Fehlinterpretation der offiziellen Daten vor, was diese zurückweisen. Es ist nicht der erste Streit um die Aussagekraft des Siegels.

 

An meiner nächsten Recherchestation im Supermarkt begegnet es mir auf unzähligen Verpackungen. Zudem müssen die Hersteller mittlerweile allerhand Informationen aufdrucken, ich als Kundin muss aber auch Fischereiexpertin werden, um etwas damit anfangen zu können – es wäre wirklich gut, nun einen Experten an meiner Seite zu haben. Ich rufe Rainer Froese an und frage ihn, ob er mit mir Fisch einkaufen kommt. Es entsteht eine kleine Pause. Er gehe nie einkaufen, erklärt er mir dann. Er sei ja verheiratet. Na gut, also verabrede ich mich mit ihm in seinem Büro in Kiel.

 

Der Wissenschaftler

 

Vom Institutsgebäude hat man einen herrlichen Blick über die Kieler Förde, an deren Ufern gerade emsig Vorbereitungen für die jährlich ausgetragene Segelregatta „Kieler Woche“ laufen – eigentlich. Doch Rainer Froese bekommt davon in seinem Büro wenig mit, es liegt im Untergeschoss, der Blick aus dem Fenster geht gegen schäbige Betonwände, er legt keinen Wert auf Aussicht. Für unser Treffen hat der Forscher – roter Pullover, kurzer Bart, regenbogenfarbenes Brillenband – ein zwölf Seiten langes Dokument ausgedruckt: die Fangempfehlung des Internationalen Rates für Meeresforschung (ICES) für den Dorsch in der westlichen Ostsee. An dessen Beispiel könne er mir das ganze Dilemma der Fischereipolitik erklären.

 

Jener Dorsch hat gerade erst für einen Aufschrei gesorgt, als der ICES empfahl, die Fangmenge für das kommende Jahr um 88 Prozent zu reduzieren. Das würde einen Rückgang von 12.700 Tonnen auf 1500 Tonnen bedeuten, rund 340 Tonnen davon dürften die deutschen Fischer fangen. Branchenvertreter hatten das als „Todesstoß“ bezeichnet, in Schleswig-Holstein gilt der Dorsch als „Brotfisch“, er ist die Haupteinnahmequelle. Rainer Froese kann über die Hysterie nur lächeln, denn weiß man die Kurven auf den Papieren vor uns zu lesen, war die Entwicklung vorhersehbar. Der „Fischereidruck“, also die Intensität des Fischfangs, ist seit Jahrzehnten zu hoch. Seit 1994, so weit reichen die Graphen zurück, befindet sich der Bestand „außerhalb sicherer biologischer Grenzen“. 2007 unterschreitet der Bestand die letzte kritische Mindestgröße. Der Balken, der die Menge des Nachwuchses darstellt, ist 2016 nur noch ein schmaler schwarzer Strich.

 

Der Präsident des Deutschen Fischereiverbandes fordert nun trotz der erschreckenden Zahlen eine „politische“ – also höhere – Dorschquote. EU-Kommission und Ministerrat legen die Fangmenge im Sommer fest, schon im letzten Jahr hatten sie sich über die Empfehlung der Wissenschaftler hinweggesetzt. „Ein Kuhhandel ist das“, sagt Rainer Froese. Die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik unter der ehemaligen EU-Kommissarin Maria Damanaki habe zwar vieles in die richtige Richtung bewegt. Aber 2014 endete die Amtszeit der Griechin, während die Verwalter der vorherigen Überfischung und deren Lobby immer noch da sind. „Es ist ein old boys business“, sagt Froese resigniert. „Und jetzt wird vieles zurückgedreht.“ Seine Maßnahmen zur Regulierung der Überfischung: die Subventionen für Schiffsdiesel streichen und zu kleine Fische nicht mehr annehmen. „Das würde ausreichen.“

 

Seine unbequemen Worte werden in der Branche nicht gern gehört. Schon 2011 hatte Froese öffentlich auf den kritischen Zustand des Dorsches hingewiesen und eine vorübergehende starke Reduzierung oder Einstellung der Fischerei verlangt. Daraufhin schrieb der Vorsitzende des Landesfischereiverbandes Schleswig-Holstein, Lorenz Marckwardt, dem Direktor des Geomar einen Brief, eine Kopie schickte er an die schleswig-holsteinische Landwirtschaftsministerin: „Unzutreffende Aussagen von Wissenschaftlern gefährden auch den Ruf der Institution, der sie angehören. […] Deshalb wäre es wünschenswert, wenn Sie Herrn Dr. Froese ermuntern könnten, nicht fernab der ‚scientific community‘ mit Einzelmeinungen zu agieren.“ Und Peter Breckling, Geschäftsführer des Verbandes der deutschen Kutter- und Küstenfischer, wandte sich im selben Jahr an den Präsidenten der Leibniz-Gemeinschaft, der das Geomar bis Ende 2011 angehörte. „Vielleicht handelt es sich um ein Kommunikationsproblem mit den Journalisten“, schrieb er süffisant. Froese aber blieb bei seiner Auffassung.

 

Mittagspause, ich begleite den Wissenschaftler in die Kantine der Landesregierung ein paar Häuser weiter. Fleisch esse er nicht mehr, Fisch aber schon. „Die Fische schulden mir was“, sagt er und lacht. Er bestellt sich die Fischpfanne. Zuerst denke ich, dass er dem Fotografen und mir demonstrieren möchte, wonach man bei der Bedienung fragen muss. Aber er winkt ab: „Das bringt doch eh nichts.“ Wahrscheinlich sei das zwischen Soße und Gemüse Seelachs.

 

Auf der Rückfahrt nach Hamburg denke ich über die Kuhhändler der EU nach. Das große Problem des Fisches ist: Er gehört niemandem. Fisch ist das Paradebeispiel der „Tragödie des Allgemeinguts“. Wer zuerst kommt, fängt zuerst. Ist der Fisch an den Küsten weg, fahren die Schiffe eben weiter raus. Ist er in den oberen Wasserschichten weg, müssen sie ihre Netze eben tiefer ausbringen. Auf der Jagd nach dem Fisch rüstet die Industrie ihre Trawler immer weiter hoch – mit Nachhaltigkeit hat das wenig zu tun. Anders ist das bei den Binnenfischern: Fischen sie ihren See leer, berauben sie sich selbst ihrer Lebensgrundlage. Ein leerer See ist leer, ein leeres Meeresgebiet grenzt irgendwo an ein anderes, in dem es noch was zu holen gibt. Meine Suche nach einem nachhaltigen Fischer führt mich also nicht aufs Meer, sondern auf einen See in Mecklenburg-Vorpommern.

 

Der Binnenfischer

 

Jörg Jaenisch kennt jeden Seeadler, der an seinem See lebt (und jeder Seeadler kennt ihn). Die Spuren, mit denen die Otter Orte für Artgenossen markieren, sind ihm vertraut, und er berührt jeden Fisch, den er fängt, mit seinen Händen. Er steuert mit seinem grünen Boot auf die Mitte der Binnenmüritz zu. Die Rad fahrenden und Eis essenden Touristen am Ufer werden kleiner, und als er den Außenborder nach einer Weile unweit einer orangen Fahne ausschaltet, ist es ganz still. Nur noch die kleinen Wellen sind zu hören, die sacht gegen den Rumpf schwappen.

 

Die Fahne markiert ein 300 Meter langes Stellnetz, das sein Kollege heute morgen ausgebracht hat. Mit routinierten Handgriffen holt Jaenisch das Netz ein – es steht senkrecht im Wasser, weil die untere Leine mit Blei beschwert ist, die andere treibt auf. Das Nylonnetz dazwischen ist so fein, dass die Fische es nicht sehen können, sie schwimmen hinein und bleiben in den Maschen stecken. So wie die goldgrün schimmernde Brasse, die der Fischer nun aus dem Netz pflückt. „Perfekte Brötchengröße“, sagt er.

 

Er muss keine Angst haben, dass jemand anderes ihm den Fisch wegfängt, denn hier auf der Müritz arbeiten alle zusammen. Zu DDR-Zeiten wurden die Fischer in einer staatlichen Genossenschaft organisiert. Nach der Wende mussten sie lernen, selbst zu wirtschaften, aus der Genossenschaft wurde eine GmbH. Im Gegensatz zur Hochseefischerei erhalten sie keine EU-Subventionen, der Fisch hat hier seinen Preis. Die rund dreißig Müritzfischer bilden die größte Binnenfischerei Deutschlands, ihren Hauptumsatz machen sie mit den selbst geführten Fischbuden. Und da wird auch die Brasse landen, zwischen zwei Brötchenhälften.

 

Der nächste Fisch schnappt in den Händen des Fischers nach Luft, eine stattliche Maräne aus der Familie der Lachsfische. Die nächste ist etwas kleiner. Mit gequetschten Lauten versucht sie, Luft aus ihrer Schwimmblase zu drücken, um den Druckunterschied auszugleichen. Den Weg zurück zum Land legen die Fische in einem Wasserbassin in der Mitte des Bootes zurück. Ich kann nicht anders, als Mitleid für sie zu empfinden, als Jörg Jaenisch ihnen mit einem Holzstab auf den Kopf schlägt und mit einem Schnitt die Herz-Kiemenarterie durchtrennt. Die Nerven lassen ihre Körper noch zucken, als er ihr Fleisch schon in Filets schneidet. Spurlos geht dieser Moment auch an dem 49-jährigen Fischer nicht vorbei: „Ich habe den Fisch selbst gefangen, habe ihn sozusagen überlistet, sodass er mir zu eigen wurde“, sagt er. „Ich mache das hier schon mit einer gewissen Andacht und verabschiede mich von ihm.“ Wenn ich einen Fisch probieren möchte, dann diesen, beschließe ich. Es wird eine Müritz-Maräne sein, die ich am Abend beim Fußballgucken esse.

 

Fünf Kilometer entfernt treffe ich den 27-jährigen Matthäus Marten, Einkaufsleiter des „Fischkaufhauses“, in dem die Müritzfischer ihren eigenen Fang und einige andere, möglichst nachhaltig gefangene oder gezüchtete Meerestiere verkaufen. Er zeigt mir die brandneue Aquaponikanlage auf dem Betriebsgelände – ein Kreislaufsystem, in dem bald nährstoffreiches Wasser aus Fischbecken Tomatenpflanzen düngen soll, um dann gefiltert zu den Fischen zurückgeleitet zu werden. Die Tomaten im Gewächshaus sind schon da, die Afrikanischen Welse sollen demnächst in ihr neues Zuhause einziehen. Zehn Tonnen Fisch und die gleiche Menge Tomaten soll die Anlage dieses Jahr produzieren.

 

Während wir durch die akkuraten Pflanzenreihen streifen, erzählt Marten mir, wie schwierig es ist, guten Fisch zu bekommen. Manchmal stünden Vertreter vor der Tür, in Anzug und Krawatte, in den Händen eine Kühltasche mit ihrem Angebot. „Wenn ich an diesen ekligen Zander aus Kasachstan denke, dreht sich mir alles um“, sagt er. Als er und seine Kollegen den aufgetaut und gebraten hätten, habe sich eine weiße Flüssigkeit in der Pfanne gesammelt – Zusatzstoffe. Mit Phosphaten binden manche Hersteller Wasser im Fisch, um ihn praller und schwerer zu machen. Trotzdem kauften viele Restaurants in der Gegend den kasachischen Zander statt den aus der Müritz, denn er ist viel billiger. Die Müritzfischer entschieden sich dennoch bewusst gegen eine Zertifizierung, die ihrer Ware offiziell ihre Nachhaltigkeit bestätigen würde. Denn Siegel wie das des MSC sind teuer und erfordern einen hohen bürokratischen Aufwand, sagt Marten.

 

Dass die Kunden auch nicht unbedingt darauf achten, ermittelte Isabel Richter in ihrer Doktorarbeit in Psychologie an der norwegischen Universität Trondheim. Ich rufe sie an. In einer Studie fand sie heraus, dass man mit Moral nicht weit kommt, wenn man uns dazu bringen will, auf Siegel zu achten, erzählt sie. Wohl aber mit der Botschaft: „Andere machen das auch“. Für ihre zweite Studie installierte die 27-Jährige deswegen in deutschen, englischen und norwegischen Supermärkten Schilder an der Kühltheke mit der Aufschrift „4% der Kunden, die gestern in diesem Supermarkt einkauften, wählten MSC/ASC“. Sie steigerte die Prozentzahl über mehrere Tage schrittweise bis auf 91. Anhand der Verkaufszahlen will sie nun feststellen, welchen Einfluss das auf das Kaufverhalten hatte. Erste Erkenntnisse: Die Werbestrategien müssen an die Länder angepasst werden. Während die Norweger bei jeder Prozentzahl mehr Produkte mit Siegel kauften, ließen sich die Deutschen nur von deutlich höheren Prozentzahlen überzeugen. Und sie selbst, achtet sie auf Siegel? „Ich bin eh Veganerin“, sagt sie und lacht in den Hörer.

 

Es gibt aber auch Meerestiere, die mit ihrer festsitzenden Lebensweise beinahe schon Pflanzen gleichen, zum Beispiel Muscheln. Sie haben so ein rudimentäres Nervensystem, dass sie wahrscheinlich kaum Schmerz empfinden können. Wenn es also ein tierisches Protein aus dem Meer gäbe, das ein Veganer akzeptieren könnte, dann wäre es die Muschel. Unter Veganern und Vegetariern wird das heiß diskutiert, selbst Peter Singer, einer der Vordenker der Tierrechtsbewegung, kann sich mit dem Gedanken anfreunden. Muscheln können außerdem eine sehr ökologische Wahl sein, denn sie ernähren sich von Plankton, das sie aus dem Wasser filtern. „Eine Zufütterung ist nicht notwendig“, schreibt das baden-württembergische Unternehmen Followfish, das Bio-Miesmuscheln aus Irland in Deutschland verkauft. Es setzt auf komplette Transparenz: Mithilfe von Tracking-Codes auf jeder Packung kann ich die Produkte bis zum Ursprung zurückverfolgen – mit der Angel gefangenen Thunfisch von den Malediven, Schellfisch aus der Barentssee und eben Muscheln vom südwestlichen Zipfel Irlands.

 

Der Muschelfarmer

 

Fast jedes Restaurant in dem 2000-Einwohner-Nest Kenmare zwischen den Halbinseln Iveragh und Beara bietet die schwarzen Schalentiere für Touristen an, aus gusseisernen Töpfen mit köstlichen Soßen und saftigem Brot. Nach einer langen Fahrt von Dublin hierher zupfen wir beglückt die orangefarbenen Leckerbissen aus den Schalen, trinken dazu Lager und lauschen dem Musiker, der in einer Ecke des Pubs irische Volkslieder singt. Die Iren selber haben, obwohl sie ein Inselvolk sind, keine große Beziehung zum Meer entwickelt. Sie essen lieber Fleisch, am liebsten schon morgens mit dem Full Irish Breakfast – „Herzinfarkt auf einem Teller“, wie es John Harrington nennt, einer der hiesigen Muschelfarmer. Deswegen exportiert er mit seinem Unternehmen Kush neunzig Prozent der Ernte nach Frankreich, dort werden die Muscheln nur im Sommer geerntet.

 

John, 53, und sein 27-jähriger französischer Mitarbeiter Thomas zeigen uns am nächsten Tag, wo die Muscheln wachsen. Mit dem Jeep rasen wir eine kurvige Küstenstraße entlang. Im Harrington’s, dem Café von Johns Eltern mit angeschlossener Tankstelle, nehmen wir noch einen Kaffee und süße Scones, dann halten wir im Ardgroom Harbour, einem Hafen inmitten grüner Hügel, auf denen Kühe und Schafe weiden. Vor 28 Jahren schauten John und sein Bruder Flor auf die ersten Muschelfarmen in der Bucht und dachten sich: Was machen die da? Lass uns das auch machen!

 

Wir treffen John Joe, der seit einem Arbeitsunfall auf einem Auge blind ist. Heute am Solstice, dem längsten Tag des Jahres, hat er seinen 65. Geburtstag. Verschmitzt grinsend bittet er um einen Kuss auf die Wange. Alle bis auf Thomas, der sich in der französischen Armee offenbar das Frieren abtrainiert hat, hüllen sich in gelbe Gummianzüge. Das Wetter schlägt beinahe minütlich zwischen Regenstürmen und Sonnenschein um. John Joe steuert uns unter der Beobachtung einer neugierigen Robbe mit dem Inspektionsboot – einer Metallplattform mit behelfsmäßigem Geländer – zur Blue Spirit, dem Muschelschiff. Von dort hängen Arbeiter sieben Meter lange Seile an Bojen ins Wasser, an denen die Muscheln wachsen sollen. John nimmt eines in die Hand: „Siehst du, es ist nichts an ihnen dran. Aber im August werden sie voller Babymuscheln sein.“ Die Muscheln in der Bucht stoßen Eier und Samenzellen aus, die daraus entstehenden Muschellarven treiben jetzt im Juni durchs Wasser auf der Suche nach Halt. „Mit den Seilen bieten wir ihnen ein Habitat“, sagt er.

 

Nach zwei Jahren tragen die Seile schwer an den dann ausgewachsenen Muscheln. Als die Farmer eine der Leinen anheben, neigt sich das kleine Inspektionsboot gefährlich zur Seite, Wellen überspülen den Boden und ich bin um mein Gleichgewicht bemüht. John zupft sich ein paar Muscheln vom Seil, er ist zufrieden mit ihrer Qualität. Bald können er und seine Mitarbeiter ernten. Tausend Tonnen Muscheln verkaufen sie im Jahr. Nach Frankreich liefern sie die Meerestiere lebendig, in Deutschland kommen sie vorgekocht und eingeschweißt ins Kühlregal. Die Bio-Zertifizierung verdankt Kush hauptsächlich dem überaus sauberen Wasser. Dazu trägt die Farm sogar bei: „Jede Muschel filtert zwei Liter pro Stunde“, ruft mir John über den knatternden Motor hinweg zu. In der Bucht hängen Millionen Muscheln an den Leinen. „Was die zusammen an Wassermengen filtern, stell dir das mal vor!“

 

Werden Fische hingegen in Farmen gezüchtet, wirkt sich das meist äußerst negativ auf das Ökosystem aus. In tropischen Ländern, vor allem im asiatisch-pazifischen Raum, werden für die Aquakulturen Mangrovenwälder gerodet, Chemikalien und Antibiotika belasten das Wasser, und die Fische führen ein trostloses Dasein in viel zu engen Absperrungen. Das größte Problem: Die Aquakultur hilft nicht gegen die Überfischung, ganz im Gegenteil. Markus Fadl vom Ökoverband Naturland fasst es in einem Satz zusammen: „Alle Fische, die die Deutschen gerne essen, sind Raubfische.“ Der sich von Pflanzen und Wasserflöhen ernährende Karpfen sei zwar weltweit Aquakulturfisch Nummer eins, aber nur weil er in China sehr beliebt ist. Fleischfressende Fische wollen andere Fische essen, und die werden extra für sie aus dem Meer geholt. 2012 waren das knapp 22 Millionen Tonnen, meist kleine Fische wie Sardellen, die zu Fischmehl und -öl weiterverarbeitet wurden. Wie effektiv der Zuchtfisch das in Körpergewicht umsetzt, zeigt sein FIFO (Fish-in-, Fish-out-Verhältnis). Im Schnitt liegt das bei 2:1. Bei Thunfischen liegt es sogar bei 20:1, er braucht also zwanzig Kilogramm Fisch, um ein Kilogramm Körpergewicht anzusetzen.

 

Der Forellenzüchter

 

Oliver Hechts Zahl ist 1,9:1. Im sauerländischen Marsberg führt er eine Teichwirtschaft, keine Aquakultur, das ist ihm wichtig. Als wir ihn besuchen wollen, muss unser Auto kurz vorm Ziel vor einer Baustelle kapitulieren und wir müssen laufen. Da rumpelt Oliver Hecht mit seinem silbergrauen Land Rover über den Hügel, lädt uns ein und rast in einer Kurve über die angrenzende Wiese zurück. Auf halber Strecke kommt uns ein schwarz-weißer Hund entgegen – „Schweinehund“, brüllt er, „du solltest doch auf mich warten.“ Diesmal ist es der Hund, der auf einem Auge blind ist, er hastet dem Jeep hinterher. Oliver Hecht, groß und drahtig, Tarnjacke und Gummistiefel, mag klare Worte. „Es ist ’ne blutige Sache hier“, sagt der 54-Jährige. 400 bis 600 Regenbogenforellen schlachtet er in der Woche, das sind bis zu acht Tonnen im Jahr. Ich bin überrascht von dem Idyll, in das er uns dann führt. Inmitten von Bäumen liegen sonnenbeschienene Teiche, über einigen hängen schattenspendende Tarnnetze, ein Bach plätschert. Abends, erzählt uns der Teichwirt, fangen die Forellen an zu springen, um sich die Insekten aus der Luft zu schnappen.

 

Wir kommen passend zum Schlachten. Zusammen mit seiner Aushilfe zieht er ein Netz durch einen der Teiche. Die Männer holen die so zusammengetriebenen Tiere mit einem Kescher heraus. Zug um Zug schüttet Oliver Hecht die zappelnden Körper in eine quietschende Sortiermaschine, die kleinen kommen zurück in den Teich, die großen landen in einem weißen Wasserbottich, in den er einen Elektroschocker hält, das sei die beste Tötungsmethode. „Da ist sofort Feierabend“, sagt Oliver Hecht und blickt auf die leblosen Fischkörper. Anschließend schlitzt sein Helfer sie einen nach dem anderen auf und saugt sie mit einer Art Staubsauger aus, was sich ein bisschen so anhört, als würde sich die Düse in der Polstergarnitur festsaugen.

 

Auch Forellen sind Fleischfresser. Dass Oliver Hechts Forellen trotzdem das Naturland-Siegel tragen, liegt daran, dass in ihrem Futter kein Fisch verarbeitet ist, der extra dafür gefangen wurde. Der Fischanteil besteht aus Verarbeitungsresten, der pflanzliche Teil ist bio-zertifiziert. Nachhaltiger geht es zurzeit noch nicht. Es gibt bereits erste Anbieter von Fischfutter mit Insektenmehl, das allerdings in der EU noch nicht zugelassen ist. Selbst an veganem Futter wird geforscht.

 

Beim Abschied lädt Oliver Hecht uns für diesen Sommer zum Grillen ein. Bestimmt wird er dann auch eine seiner Forellen auf den Rost legen. Zwar kann ich nach allem, was ich nun von Wissenschaftlern, Fischern, Händlern, Muschelfarmern und Fischzüchtern gelernt habe, nichts Verwerfliches daran finden, davon zu essen. Trotzdem werde ich sie verschmähen. Ich sähe die am vorbildlichsten gezüchtete und getötete Forelle immer noch lieber lebendig im Wasser schwimmen als tot auf dem Grill rösten. Wichtig ist aber: Ich habe mir Gedanken gemacht, warum ich mich dagegen entscheide, und das sollte auch jeder tun, der sich dafür entscheidet.

greenpeace magazin 2016