In Wladiwostok ist es schon ziemlich schwer. Vor 25 Jahren hat Manfred Brockmann die lutherische Gemeinde wieder eingesammelt; seine Weggefährten von damals sind längst weg. „Abgehauen oder gestorben.“ Und er würde jetzt vielleicht auch gern gehen. Aber dann?
„Hier haben sie gelacht bis zum Ende der Sowjetunion, danach nicht mehr“, sagt Friedrich Klaus. „Danach wurde alles zugeschlossen: die Läden, die Herzen, alles.“ Der 65-Jährige hat die Zeiten erlebt, als Religion ein Verbrechen war, „Opium des Volkes“, wie Karl Marx das nannte. Also glaubten die Leute an Marx, an Lenin, an Stalin. Aber als der Kommunismus unterging, Anfang der Neunzigerjahre, starben auch seine Götter.
Und dann kam Manfred Brockmann und schloss alles wieder auf. Auf einmal war er einfach da, im Mai 1992, so wie er auch jetzt plötzlich durch die schwere Kirchentür schreitet. Dass er vor einem Jahr eine neue Hüfte bekommen hat, merkt man ihm kaum an. In seinem schwarzen Militärmantel und mit der buschigen Wildfuchsmütze auf dem Kopf ist er leicht als das Alphatier zu erkennen. Im Vorbeigehen streicht er seinem Schäfchen Friedrich Klaus über die Schulter, alle anderen Schafe aus der Anfangszeit sind ihm mittlerweile entlaufen.
Als Manfred Brockmann nach Wladiwostok im südöstlichsten Zipfel Russlands kam, da war die lutherische Pauluskirche – vor hundert Jahren von einem deutschen Architekten erbaut und immerhin die älteste Kirche der Stadt – ein Militärmuseum. Vor dem Eingang stand ein Panzer, auf dem Altar thronte Lenin, und in einer Ecke wuchs ein Baum. Der letzte Pastor, Woldemar Reichwaldt, galt seit 1935 als verschwunden, höchstwahrscheinlich war er unter Stalin verschleppt und ermordet worden. Wladiwostok, jahrzehntelang eine geschlossene Militärstadt, hatte sich gerade wieder geöffnet, und nun lief da dieser deutsche Pastor aus Hamburg durch und suchte nach den Menschen, die früher in die alte Backsteinkirche gegangen sein mussten. Er fragte beim KGB, bei den Orthodoxen – niemand wollte etwas wissen von den rund 800 Lutheranern, die der Freiheit in Wladiwostok noch nicht wieder zu trauen schienen. Auf einem Konzert lernte er dann zufällig den katholischen Pfarrer kennen, der wenige Wochen vor ihm angekommen war, durch ihn fand er endlich auch die ersten Lutheraner. „Da kamen sie alle raus aus ihren Löchern“, sagt Brockmann, heute 79. Seinen ersten Gottesdienst feierte er demonstrativ vor der Kirche, es sollte noch mehr als fünf Jahre dauern, bis sie das Gotteshaus vom Staat zurückbekamen.
Er deutet auf die Fotos an den Seitenwänden der Kirche, da haben sie den Umbau dokumentiert, die ersten Gottesdienste, die neuen Kirchenglocken, die Fußbodenheizung. Es ist eine Ausstellung von Brockmanns Lebenswerk: Er erweckte eine tot geglaubte Gemeinde wieder zum Leben, beschaffte Steine von alten Ruinen für das marode Kirchengemäuer, neue Fenster, einen neuen Boden, eine neue Orgel, packte selbst mit an, knüpfte Kontakte auf der ganzen Welt, um all das zu finanzieren. 2014 wurde er für seinen Einsatz für die deutsch-russischen Beziehungen mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Sein Ausdruck verhärtet sich, als sein Blick an dem Gruppenbild hängen bleibt, das sie beim allerersten Gottesdienst aufnahmen, 35 Leute waren sie da. „Davon ist keiner mehr da“, sagt er, er gibt sich keine Mühe, seine Verbitterung zu verbergen. „Die sind alle abgehauen oder gestorben.“ Friedrich Klaus neben ihm nickt traurig. Sein Sohn wurde im Polizeidienst erschossen, Wladiwostok zu verlassen hieße, den Sohn zu verlassen. Er und Manfred Brockmann sind die Letzten, die noch da sind.
„So viele haben uns verlassen, Menschen, in die wir Vertrauen, Hoffnung und Geld investiert haben“, hatte Brockmann vor gut einem Jahr in einem Onlineartikel geschrieben, den er mit „Nicht abhauen! Bleiben!“ überschrieben hatte. „Verlassen nach dem Westen, weil sie von diesem harten Leben hier genug haben!“ Egoistisch und rücksichtslos findet er das, er sei auf der Seite derer, die verlassen werden. „Man bleibt da, wo es schwer ist“, sagt er bestimmt, „meinetwegen bis zum Martyrium, jedenfalls hat die alte Christenheit so überlebt.“ Wer sowas sagt, der kann nicht einfach gehen, selbst wenn er merkt, dass seine Zeit gekommen ist. Manfred Brockmann würde gern seine Enkel im rund 8000 Kilometer entfernten Deutschland aufwachsen sehen, würde sich gern mit seiner russischen Frau Tatjana zur Ruhe setzen. Aber er kann erst gehen, wenn er einen Nachfolger gefunden hat.
„Das Leben ist hart hier“, das sagt er oft. Die Menschen hätten zu wenig Geld und arbeiteten zu viel, das dicke Geld fließe in Prachtbauten, die oft genug niemals fertiggestellt würden. Wladiwostok heißt „Beherrsche den Osten“. In den Schaufenstern liegt westliche Mode zu westlichen Preisen, gleich neben Läden mit Militär- und Angelbedarf, auf den Straßen fahren Unmengen japanischer Gebrauchtwagen mit Linkslenkung trotz Rechtsverkehr, Touristen kommen vor allem aus dem benachbarten China. Im Winter steigt das Thermometer monatelang nicht über Null, das Japanische Meer erstarrt in der Bucht um Wladiwostok zu Eis. Viele Gehwege der hügeligen Hafenstadt sind dann dauerhaft gefroren, Pastor Brockmann ist gerade wieder gestürzt, als er den Müll rausbringen wollte.
Der Pastor reißt sich los von der Fotowand, er hat viel zu tun heute. Schnell noch eine Probe mit zwei Sängerinnen und einem Sänger für einen Auftritt in der katholischen Kirche heute Abend. Mit tiefer Stimme singt er vor und spielt dazu auf seiner Bratsche, die anderen folgen schüchtern. Vor dem Auftritt steht noch die Taufe eines 30-jährigen Seemanns auf dem Programm, ein 75. Geburtstag mit Schnittchen, Sekt und Reden, nach kurzer Pause dann das Chorkonzert vor voll besetzten Bänken in der katholischen Kirche weiter oben am Hang. Gleich im Anschluss eilt er zurück zur Pauluskirche, über die Straße, denn der Gehweg liegt unter einem dicken Schneewall begraben. In seiner Kirche veranstalten sie an diesem Abend ein Streichkonzert, er schafft es erst zur zweiten Hälfte.
25 Jahre ist Manfred Brockmann nun schon hier. Er kam als Abenteurer, hatte unerschöpfliche Energie, verliebte sich in diesen kalten Flecken Erde und liebt ihn noch, aber er wird älter, die Dinge beginnen an ihm zu zehren. Die russische Bürokratie, die Lethargie mancher Gemeindemitglieder, sein Stiefsohn, der von dem Rockzipfel seiner Mutter nicht loskommt – das alles macht ihn zunehmend ungehalten. Auch die langen Reisen fallen ihm schwerer, in Russland sind die Wege weit. Er steht nicht nur den rund 120 Gemeindemitgliedern in Wladiwostok vor, sondern als Propst auch all den Versprengten im äußersten Osten Russlands. Mit einer Ausdehnung von mehr als sechs Millionen Quadratkilometern ist sein Verwaltungsgebiet mehr als 17-mal so groß wie Deutschland. Russland ist groß und Russland ist leer.
In diese Leere macht er sich an einem kalten klaren Morgen auf. Hinter den Ausläufern der Stadt beginnt die schneebedeckte Weite, stille Tannenwälder, dann und wann sieht man ein paar Häuser. Nach zwei Stunden erreicht der weiße Minibus Ussurijsk, eine rund 150.000 Einwohner große Stadt nördlich von Wladiwostok. Jekatarina Stetsenko, eine kleine Frau mit rostrot gefärbten Haaren, holt Manfred Brockmann vom Busbahnhof ab, sie ist die Präsidentin der zwölfköpfigen Gemeinde hier. Statt in einer Kirche feiern sie ihre Gottesdienste in einer Wohnung in einem unscheinbaren Plattenbau, beige gemusterter PVC-Boden, grau gepolsterte Stühle, eine kleine Küche. „Wo zwei oder drei unter meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“, steht an einer Wand des Raumes geschrieben, in dem sie gemeinsam beten. Sie haben Brote, Wurst und Käse, Blinis, Tee und Kaffee vorbereitet für ihren Propst, ungefähr alle zwei Monate sehen sie sich. Einen eigenen Pastor haben sie nicht, die Predigten schickt ihnen Brockmann per E-Mail.
„Das Leben ist hart hier“, sagt der Pastor nun wieder. Er will das veranschaulichen: Jahrelang unterstützten die Lutheraner die Waisenkinder in Ussurijsk, brachten ihnen Kochen bei, Nähen, das richtige Verhalten im Straßenverkehr. Manfred Brockmann organisierte dafür 3000 Euro. Nun, da das Geld aufgebraucht ist, können sie ihre Arbeit nicht fortsetzen. Das eigentliche Drama aber ist der Grund, aus dem die Kinder zu Waisen werden. „Es gibt hier viele Arbeitslose, viele trinken zu viel, denen wird dann das Sorgerecht entzogen“, erklärt Irina Lapina, die Kassenwartin der Gemeinde. Das wäre noch der gute Verlauf, den schlechten Verlauf erlebte ihre Patentocher Olga: Auch ihr Vater trank zu viel, so viel, dass er eines Tages seine Frau vor ihren Augen erschlug. Von einem Tag auf den anderen hatte Olga eine tote Mutter und einen Vater im Gefängnis. Das sei kein seltenes Schicksal hier, sagt Lapina.
Olga hätte eigentlich dem orthodoxen Glauben zugeführt werden sollen, das musste Lapina unterschreiben, als sie ihre Patenschaft übernahm. Rund drei Viertel der russischen Bevölkerung bekennen sich zur russisch-orthodoxen Kirche, weniger aus Religiosität denn aus kultureller Identifikation. Bis zur Oktoberrevolution 1917, mit der die kommunistischen Bolschewiki gewaltsam die Macht übernahmen, war die Orthodoxie beinahe ein Jahrtausend lang Staatsreligion in Russland. Obwohl sie den Status seit dem Zerfall der Sowjetunion nie zurückerlangte, genießt sie eine wachsende Vorzugsbehandlung, Präsident Putin hat die Kirche als Machtwerkzeug erkannt. Da kann man Waisenkinder schon mal zwingen, der nationalen Linie zu folgen. Irina Lapina nahm Olga trotzdem mit in ihre lutherische Gemeinde – „Russland ist ein Land, in dem alles verboten, aber gleichzeitig auch alles möglich ist“, sagt Manfred Brockmann.
Drei Stunden weiter wartet in Arsenjew schon der schweigsame Alexander Lapotschenko – neben dem deutschen Propst der einzige lutherische Pastor im Osten Russlands. Manfred Brockmann hat auf der Busfahrt etwas geschlafen, ausgestreckt über vier Sitze, den Kopf auf seine Pelzmütze gebettet, der Blick aus dem Fenster wurde ohnehin schnell von einer gefrierenden Kondensschicht verschleiert. Es ist schon dunkel, als er sich mit dem Pastor auf den Fußweg zum Gemeindehaus macht, die kalte Luft, minus 25 Grad, lässt Bart und Wimpern gefrieren. Das Haus ist frisch renoviert, Brockmann ist stolz auf seine Gemeinde, denn sie engagierte mit dem Geld, das er ihnen organisierte, keine Baufirma, sondern machte alles selbst. An diesem Abend geben sie ihm zu Ehren ein Konzert, fast zwanzig Leute sind gekommen.
Manfred Brockmann aber findet, die Gemeinde könnte sich häufiger treffen, nicht nur am Wochenende. Sie müssten zu viel arbeiten, gibt Alexander Lapotschenko zurück, der Vorwurf verletzt ihn. Brockmann würde gern mal sehen, dass etwas ohne ihn läuft. Er wird ungehalten, wischt die Erklärungsversuche weg, wie so oft hat er das Gefühl, alles allein machen zu müssen.
Die Aussichten, bald einen Nachfolger zu finden, sind düster. Die Gemeinde wünscht sich wieder einen Deutschen. Er darf nicht viel kosten, ist also am besten ein Pensionär, so wie er. Gebildet soll er sein, musikalisch, er muss internationale Kontakte pflegen können und ein Abenteurer sein, denn er muss hier leben wollen, am äußersten Zipfel Russlands. Er muss in die sehr großen Fußstapfen Manfred Brockmanns treten. Vor zwei Jahren war er voller Hoffnung, erzählt er zu Hause in seiner Altbauwohnung in Wladiwostok beim Abendessen. Da habe sich ein Interessent gemeldet, er traf ihn in Deutschland. „Dann war er hier und bekam Angst“, erzählt er, wieder nicht darum bemüht, seine Verbitterung zu verbergen. „Das war eine Enttäuschung.“
Dieses Jahr komme ein Architekt, der nebenher theologische Kurse besucht habe, Thomas Meyer-Bohe, „der ist ein Abenteurer, so wie ich, und er geht jetzt in Pension, so wie ich.“ Brockmann klammert sich an diesen Hoffnungsschimmer. Thomas Meyer-Bohe weiß das, und er weiß, dass er ihn enttäuschen muss. „Über die maximale Zeitspanne müssen wir noch diskutieren“, sagt er.
Bei einem seiner letzten Besuche in Arsenjew, da war der alte Pastor in die Berge gegangen, allein. Er liebt das – nur er, die Berge, die Bäume, die Luft, da kann er am besten nachdenken. Am Abend war das Wetter noch gut, am Morgen aber lag sein Zelt fast vollständig unter einer dicken Schneeschicht begraben. Er schaffte es, sich zu befreien, musste sein Zelt aber zurücklassen. Leicht hätte er darin ersticken können oder erfrieren. „Vielleicht suche ich die Grenzen“, sinniert der Pastor. „Vielleicht sterbe ich auch irgendwann in der Natur.“