Ist das Tier wie wir?

 

Die meisten Menschen halten sich für besser als Tiere und benutzen sie nach ihren Bedürfnissen. Schon bald werden wir zurückblicken und uns dafür schämen


Ein Gedankenexperiment: Sie können von einem sinkenden Schiff entweder Menschen, Hunde oder Schweine retten. Für wen entscheiden Sie sich? Fangen wir mit einem Menschen und einem Hund an. Ändert sich Ihre Wahl, wenn Sie nur einen Menschen oder aber zehn Hunde retten könnten? Einen Menschen oder hundert Schweine?

 

Wenn Sie erwachsen sind, dann haben Sie sich vermutlich immer für den Menschen entschieden, egal wie viele Hunde oder Schweine Sie hätten retten können. Das hat eine Studie von Forschern der Universitäten Yale, Harvard und Oxford gezeigt. Kinder entscheiden sich anders; die Forscher stellten auch Fünf- bis Neunjährige vor diese Aufgabe: Mehr als siebzig Prozent von ihnen würden eher hundert Hunde als einen Menschen retten, immer noch die Hälfte würde zwei Hunde einem Menschen vorziehen. Schweine bekamen erwartungsgemäss weniger Sympathien (denn auch Kinder wissen, dass Schweine gemeinhin als Essen und Hunde als Freunde gelten), aber bei zehn Tieren oder mehr entschied sich trotzdem mindestens die Hälfte der Kinder für sie.

 

Wir diskriminieren Tiere aufgrund ihrer Artzugehörigkeit, dafür gibt es sogar einen Fachausdruck: Speziesismus. Und die Studie zeigt uns: Das machen wir nicht automatisch, wir lernen es. «Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Ansicht, der Mensch sei moralisch etwas Besonderes, eine sozial erworbene Ideologie ist», schreiben die Forscher. «Sie kann sich herausbilden, wenn Kinder erfahren, auf welch vielfältige Weise wir Tiere nutzen, um menschliche Bedürfnisse zu erfüllen.» Anders ausgedrückt: Wenn Kinder genügend Chicken-Nuggets gegessen, Lederschuhe getragen und Geschichten vom bösen Wolf gehört haben, dann fangen sie auch irgendwann an, eher imaginäre Menschen von imaginären Schiffen zu retten, als imaginäre Hunde oder Schweine.

 

Ich frage mich: Begeht unsere Gesellschaft nicht einen grossen Irrtum? Woher nehmen wir uns das Recht, mit Tieren zu machen, was wir wollen, und ihnen das Recht auf Selbstbestimmtheit abzusprechen? Und was würde passieren, wenn wir das änderten?

 

Ein nützliches Gebrauchsobjekt

 

Wir nutzen und benutzen Tiere, um die unterschiedlichsten Bedürfnisse mit ihnen zu befriedigen: Wir züchten, mästen und schlachten sie, um sie zu essen. Wir jagen sie, um sie auszustopfen und an die Wand zu hängen. Wir züchten sie, um sie als Haustiere zu halten und von ihnen geliebt zu werden. Wir züchten sie und manipulieren ihre Gene, um Experimente an ihnen durchführen zu können, damit Menschen davon verschont bleiben. Wir fangen sie ein, um sie in Zoos auszustellen. Wir zähmen sie, um auf ihren Rücken reiten zu können. Wir trainieren sie, um uns von ihnen Kunststücke vorführen zu lassen, und wir züchten sie nach, um sie auszuwildern – um unser Gewissen zu erleichtern und wiedergutzumachen, was wir kaputt gemacht haben.

 

Jede dieser Nutzformen betrifft ganz unterschiedliche Tiere, besser gesagt nichtmenschliche Tiere. Wir Menschen sind ja auch Tiere (Gattung Homo der Familie Hominidae in der Klasse der Säugetiere). Dass wir alle anderen Arten unter «das Tier» im Singular zusammenfassen, zeugt schon von unserer Überheblichkeit. Es gibt ja nicht nur eine, sondern vermutlich rund acht Millionen Tierarten. «Im normalen Gebrauch wirft der Ausdruck ‹Tier› so unterschiedliche Lebewesen wie Austern und Schimpansen zusammen und gräbt gleichzeitig einen Graben zwischen Schimpansen und Menschen», kritisiert der australische Ethiker Peter Singer in seinem Buch «Animal Liberation», das als Bibel der Tierrechtsbewegung gilt. Er benutzt den Begriff aber trotzdem, aus Mangel an Alternativen. Auch in diesem Text sind nicht- menschliche Tiere gemeint, wenn von «Tieren» die Rede ist.

 

Die Regeln des von Singer beschriebenen Grabens: Alle auf unserer Seite (also Menschen) haben weitreichende Rechte, alle auf der anderen Seite (also Tiere) nicht. Dass überhaupt alle Menschen auf dieser Seite des Grabens stehen, ist erst seit kurzer Zeit so. Lange Zeit war es normal, dass Menschen aus der sogenannten Ersten Welt über Sklaven verfügten oder dass Männer über Frauen bestimmten (siehe das Frauenwahlrecht in der Schweiz, das auf Bundesebene erst 1971 eingeführt wurde). Tatsächlich hat sich daran vielerorts bis heute nichts verändert, aber zumindest auf dem Papier gelten für uns alle dieselben Rechte.

 

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen heisst es: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.» Im Umkehrschluss heisst das: Für Tiere gilt das nicht. Der Moralphilosoph Jeff McMahan formuliert es so: Tiere sind «zum Nutzen des höheren Wohls uneingeschränkt verletzbar», während Menschen «zur Gänze unverletzbar» sind.

 

Dass Sie das bis jetzt vermutlich nie infrage gestellt haben, ist dem Speziesismus geschuldet, den Sie mit Chicken-Nuggets, Lederschuhen und Geschichten vom bösen Wolf erlernt haben. Ist es an der Zeit, nach Rassismus und Sexismus auch diesen Ismus abzubauen? Stehen auch Tieren Grundrechte zu?

 

Dem Menschen untertan

 

Zum Schutz der Tiere gibt es eigentlich Tierschutzgesetze, das der Schweiz gilt sogar als besonders weitreichend. Darin ist zum Beispiel zu lesen: «Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, es in Angst versetzen oder in anderer Weise seine Würde missachten.» Das Problem an diesem Satz ist das Wort «ungerechtfertigt», denn es besagt, dass man in gerechtfertigten Situationen sehr wohl Tiere verletzen darf. Und gerechtfertigt ist offenbar jede Situation, in der ein Tier ein menschliches Bedürfnis befriedigt. Denn das grundsätzliche Nutzungsrecht von Tieren stellt kein einziges Tierschutzgesetz infrage.

 

Warum finden wir es normal, dass wir uns an Tieren bedienen können, wie es uns beliebt? Zum einen ist das tief im Christentum verankert: In der Schöpfungsgeschichte spricht Gott zu den Menschen: «Füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.» Wer an Wiedergeburt glaubt, setzt sich in ein ganz anderes Verhältnis, denn jedes Tier kann potenziell eine zuvor menschliche Seele tragen. Im Hinduismus gibt es überdurchschnittlich viele Vegetarier*innen, und die indische Verfassung schreibt «Mitgefühl für die Lebewesen» vor.

 

Die meisten Menschen werden die Überlegenheit unserer Art mit Intelligenz, Selbstbewusstsein oder Rationalität begründen. Das ist aber dünnes Eis, denn weder verfügen alle Menschen gleichermassen über diese Eigenschaften – etwa Kleinkinder –, noch verfügt kein Tier über sie. «Die Frage ist nicht: Können sie denken? Oder: Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?», befand der britische Philosoph Jeremy Bentham schon 1780.

 

Wir wissen, dass Hühner, Schweine und Rinder leiden können. Hierzulande kann ein Masthuhn auf einer Fläche kaum grösser als ein A4-Blatt leben, zehn Mastschweine teilen sich die Fläche eines Autoparkplatzes. Ein schmerz- und schadloses Leben ist auf so beengtem Raum schwer vorstellbar. «Tierschutzgesetze erlauben immer noch Überzüchtung, Trennung von Mutter und Kind und Schlachtung. Ausserdem werden sie notorisch zu wenig umgesetzt, wegen mangelnder Ressourcen, mangelndem Interesse oder Wissen», sagt mir die schweizerische Rechtswissenschaftlerin Saskia Stucki vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

 

Ich habe sie angerufen, weil sie ihre Dissertation genau zu der Frage geschrieben hat, die ich mir stelle: Sollten Tiere Grundrechte erhalten? «Man sollte nicht der Illusion verfallen, dass wir mit den Tierschutzgesetzen den Höhepunkt unserer Humanität schon erreicht haben», sagt sie.

 

Der Höhepunkt der Humanität wäre, Tieren ähnliche Rechte einzuräumen wie Menschen. Dafür müssten sie aber von Objekten zu Subjekten werden; Tiere haben nämlich derzeit den juristischen Status eines Autos oder Möbelstücks. Sie sind Eigentum: Wenn Sie den Hund Ihres Nachbarn treten, dann verletzen Sie das Recht Ihres Nachbarn, nicht das des Hundes. In fast jedem Rechtssystem gelten Tiere als Sachen, in der Schweiz werden sie zwar nicht mehr so genannt, faktisch aber trotzdem so behandelt: Sie sind Besitz, mit dem man machen kann, was man will, solange man das Tierschutzgesetz nicht verletzt.

 

Sachen haben keine Rechte, und sie können sie auch nicht vor Gericht einklagen. Das können nur Personen. Sollten wir Tieren also den Status von Personen geben?

 

Der Himmel stürzt ein

 

Falls Sie die Idee lächerlich finden – vielleicht lag Ihnen ein Witz zum Wahlrecht für Katzen oder dem Recht auf Versammlungsfreiheit für Eidechsen auf der Zunge –, dann sind Sie damit nicht allein. Menschen, die sich für Tierrechte einsetzen, sind solche Reaktionen gewohnt. «Wenn wir das Wort ‹Person› sagen, drehen die Leute durch», erzählt die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Lori Marino Anfang November auf der 30. Animal Law Conference in Portland im Nordwesten der USA, die ich online mitverfolge. Auf der Konferenz muss niemand bei der Vorstellung kichern, einen Schwertwal oder einen Orang-Utan zu einer Rechtsperson zu machen.

 

Lori Marino arbeitet oft mit dem Nonhuman Rights Project (NhRP) zusammen, das in zahlreichen Gerichtsverfahren versucht, für einzelne Tiere Personenrechte zu erstreiten. Marino ist schon in Gerichtssälen ausgelacht worden, wenn sie etwa von der «Kultur von Tieren» sprach. Das NhRP führt die Schimpansen Tommy, Kiko, Hercules und Leo sowie die Elefanten Beulah, Karen, Minnie, Happy, Nolwazi, Amahle und Vusmusi in seiner Klientenliste. Für alle von ihnen versuchte das Projekt – bislang erfolglos – eine Habeas-Corpus-Verfügung zu erreichen. Das ist eine gerichtliche Anordnung, die verlangt, dass ein Gefangener einem Richter vorgeführt wird, um über die Rechtmässigkeit seiner Inhaftierung zu entscheiden. Wird diese Anordnung erteilt, erkennt das Gericht diesen Gefangenen als Rechtssubjekt an.

 

Klingt immer noch absurd? Das fanden wohl auch die meisten Prozessbeobachter, die die Welt nicht mehr verstanden, als im Jahr 1772 der Oberste Richter des höchsten Gerichtshofs in England, Lord Mansfield, für den Sklaven James Somerset eine solche Verfügung aussprach und damit einem Sklaven Personenrechte zugestand. Die Entscheidung gilt als Anfang vom Ende des Sklaventums. Vor der Freilassung Sommersets soll Lord Mansfield gesagt haben: «Fiat justitia ruat caelum.» – «Es soll Gerechtigkeit geschehen, auch wenn der Himmel einstürzen mag.»

 

Steven Wise, Gründer des NhRP, ist nun auf der Suche nach einem neuen Lord Mansfield. Das New Yorker Berufungsgericht hat immerhin den Fall der Elefantendame Happy verhandelt, die dort aber scheiterte. Die Vorsitzende Richterin Janet DiFiore sagte in ihrer Begründung: Happy Personenrechte zu geben, «würde eine enorme destabilisierende Wirkung auf die moderne Gesellschaft haben». Der Himmel würde einstürzen.

 

Würde er das? Was würde denn passieren, wenn Tiere Personenrechte erhielten? Die Frage lässt sich leicht beantworten, denn es gibt weltweit bereits mehrere Tiere, die als Personen anerkannt wurden, wenn auch nicht in Europa oder den USA: Schimpansendame Cecilia aus Argentinien, die jahrelang in einem engen Käfig gehalten wurde; 55 Welpen, ebenfalls aus Argentinien, die in einem Massenzuchtbetrieb gefunden wurden; Elefant Kaavan aus Pakistan, der als der «einsamste Elefant der Welt» bekannt und von Sängerin Cher unterstützt wurde; ja sogar die zur Plage gewordenen Nilpferde von Drogenbaron Pablo Escobar in Kolumbien wurden so vor der Tötung bewahrt. Ecuador ging noch einen Schritt weiter: Es ist das erste Land der Welt, das Naturrechte im Grundgesetz verankerte, also die gesamte Natur zur Rechtsperson machte. Dieses Recht wurde letztes Jahr erstmals auf ein wildes Tier angewandt, und zwar auf die Wolläffin Estrellita, die zum Zeitpunkt des Urteils allerdings schon tot war. Trotzdem ist ihr Fall bahnbrechend, denn das Gericht forderte die Nationalversammlung auf, innerhalb der nächsten zwei Jahre ein Gesetz über Tierrechte zu verabschieden.

 

Dass in Argentinien, Pakistan, Kolumbien und Ecuador solche Urteile möglich sind, liegt auch an deren kolonialen Vergangenheit, sagt die Rechtswissenschaftlerin Saskia Stucki. Diese Länder hätten relativ neue und beweglich angelegte Verfassungen, mit dem Ziel, eine Brücke zu einer besseren Zukunft zu schlagen. Gerichte aus diesen Ländern beziehen sich in ihren Urteilen auch auf die Rechtsprechung im Ausland, US-amerikanische Gerichte hingegen schauen nicht über die Landesgrenzen hinaus.

 

Für die meisten Tiere hatte der neue Status als Rechtsperson zur Folge, dass sie in ein Reservat verlegt wurden, in dem sie, so die Hoffnung, ein glücklicheres Leben führen können. Im Fall des Elefanten Kaavan in Pakistan ordnete Richter Athar Minallah an, den gesamten Zoo zu schliessen und dessen Tiere, die er als «Insassen» bezeichnete, in Reservate zu verlegen. «Wildtiere müssen als Selbstzweck behandelt werden und nicht als Mittel zur blossen Unterhaltung der Menschen», begründete er die Entscheidung. Auch Wildtiere in freier Wildbahn würden von Personenrechten profitieren: Wenn etwa ein Konzern einen Wald abholzen wollte, müsste er (zumindest theoretisch) die dort lebende Bevölkerung berücksichtigen. Damit wären dann eben nicht nur Menschen gemeint, sondern auch Füchse, Marder oder Rehe.

 

Behaarte kleine Menschen

 

Ein geschlossener Zoo ist kein eingestürzter Himmel. Für die Bevölkerung Basels reichte aber schon die Vorstellung, ihr Affenhaus könnte geschlossen werden, als Drohszenario aus. Die Baslerinnen und Basler stimmten letztes Jahr weltweit erstmals über die Grundrechte von Primaten ab. Initiiert hat das die Organisation Sentience Politics, die einen neuen Satz in die Basler Verfassung aufnehmen wollte: «Diese Verfassung gewährleistet überdies: das Recht von nichtmenschlichen Primaten auf Leben und auf körperliche und geistige Unversehrtheit.» Knapp 75 Prozent der Bevölkerung Basels stimmten dagegen. Dabei hätte die Änderung keinerlei Auswirkungen gehabt, denn sie hätte nur in staatlicher Obhut lebende Affen betroffen, das hatte das Bundesgericht verfügt. Zum Zeitpunkt der Abstimmung hatten die in Basel ansässigen Pharmaunternehmen ihre Forschung an Primaten aber bereits eingestellt, und der Zoo Basel ist in privater Trägerschaft. Es gab also keinen Affen mehr im Kanton, der die neuen Rechte hätte in Anspruch nehmen können.

 

Wieso also haben die Menschen in Basel so deutlich dagegen gestimmt? Weil der Zoo ihnen suggerierte, dass es sehr wohl um seine Affen ging. «Der Zoo war der zentrale Gegner unserer Initiative, das hat es schwer gemacht für uns», erzählt mir Silvano Lieger, Co-Geschäftsleiter von Sentience Politics. Auf einer eigens für die Volksabstimmung eingerichteten Webseite des Zolli stand zu lesen: «Echter Tierschutz hat nichts mit Rechten zu tun.» Der Zoo entscheide «zu jeder Zeit im besten Interesse» der Affen. Hätten sie Rechte, dann würde das nicht mehr gehen, weil Rechte nicht verhandelbar sind. Damit sagt der Zolli indirekt auch: Das «beste Interesse» der Affen ist verhandelbar, es lässt sich zur Not also auch unterordnen.

 

Der Zoo führte noch ein anderes Argument gegen ein Ja in der Volksabstimmung an: «Affen sollen gegenüber anderen Tieren nicht bevorzugt behandelt werden.» Natürlich ist es eine Form von Speziesismus, ausschliesslich Rechte für Primaten erstreiten zu wollen. Dieser Kritik sieht sich auch das Great Ape Project ausgesetzt, das international versucht, Grundrechte für Menschenaffen durchzusetzen. Anthropozentrismus, die Selbstbezogenheit des Menschen, würde abgelöst von Hominidismus, einer Selbstbezogenheit auf Menschenaffen.

 

Aber mit Affen lässt sich das Argument am leichtesten gewinnen. «Sie sehen wie behaarte kleine Menschen aus, wenn nicht bei ihnen, bei welchen Lebewesen sonst kann man sich vorstellen, ihnen Grundrechte zu verleihen?», sagt Stucki. Es ist strategischer Pragmatismus, bei den Affen anzufangen. Wie die oben aufgeführten Urteile für Personenrechte zeigen, haben einige Gerichte weltweit mit anderen Tierarten wie Elefanten, Hunden und Nilpferden weitergemacht. Das US-amerikanische NhRP findet neben Menschenaffen noch Elefanten, Delfine und Wale rechtswürdig, «aufgrund ihrer Fähigkeiten zur Autonomie, freiwillig zu handeln und das eigene Verhalten entsprechend der eigenen Vorlieben und Ziele zu steuern.»

 

Wir wissen, dass diese Tierarten all das können, weil wir sie umfassend erforscht haben. Je weiter die Forschung voranschreitet, desto mehr findet sie solche Fähigkeiten allerdings auch in Tieren, denen wir das bislang nicht zugetraut haben. Auch Fische etwa haben Persönlichkeit, sie haben Freunde und können sich einsam fühlen; Putzerlippfische schneiden bei manchen Lernübungen sogar besser ab als Schimpansen und Orang-Utans. Und selbst Fliegen wurden in einem Experiment neurologische Reaktionen nachgewiesen, die auf Angst schliessen lassen.

 

Niemand fordert aber Personenrechte für Fliegen, zumindest noch nicht. Die Sache ist: Wir müssen die Frage nicht für jede Tierart durchdiskutiert haben, bevor wir anfangen können, einigen von ihnen mehr Rechte zuzugestehen. Für den Anfang reicht es, zu wissen, ob die Tiere, denen wir am meisten Leid zufügen, unseren Ansprüchen an eine Rechtsperson genügen. Und das wissen wir.

 

Das Bundesgericht hätte die Basler Volksabstimmung wohl nie zugelassen, wenn sie sich auf alle Tiere bezogen hätte. Dass es das im Fall der Primaten tat, wertet die Basler Initiative schon als Erfolg, denn damit hat es indirekt bestätigt, dass man Grundrechte für sie einführen könnte.

 

Nur mal angenommen, die Entscheidung hätte die Primaten im Zoo Basel betroffen und die Basler Bevölkerung hätte mit Ja gestimmt – was hätte sich für sie verändert? «Aus unserer Sicht wäre es unter bestimmten Umständen noch immer möglich gewesen, Affen zu halten», sagt Silvano Lieger, der Co-Geschäftsführer von Sentience Politics. Es wäre darauf angekommen: Wie viel Stress verursachen die Besucher? Wie viel Platz braucht ein Affe? Es ist nicht ganz einfach, sich für die Bedürfnisse von Lebewesen einzusetzen, die einem nicht sagen können, was ihre Bedürfnisse sind. Aber unmöglich ist das auch nicht, wir tun das bereits mit Kindern, Menschen mit Beeinträchtigung oder senilen Menschen. Wir unterstellen ihnen Interessen, basierend auf bestmöglicher Forschung, die wir dann in ihrem Namen vertreten. Eine rechtliche Vertretung für Primaten hätte daher ähnlich aussehen können wie die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, sagt Silvano Lieger.

 

Wollen Tiere frei sein?

 

Dag Encke, Direktor des Tiergartens in Nürnberg, waltet seit siebzehn Jahren über fast 7000 Tiere und hält gar nichts davon, Tieren Grundrechte zu geben. Deswegen will ich mit ihm sprechen. «Die meisten unserer Tiere könnten ausbrechen, wenn sie wollten», erzählt er mir. Es sei ihre Entscheidung zu bleiben. Denn was wir als Gefangenschaft interpretierten, bedeute für viele Tiere Sicherheit. «Ich glaube nicht, dass Tiere ein Freiheitsbewusstsein haben», sagt Encke. «Freiheit ist ein dermassen anthropomorpher Begriff, der in der Biologie der anderen Tiere als abstrakter Wert überhaupt nicht vorkommt.» Anders ausgedrückt: Wir unterstellen den Tieren, frei sein zu wollen, wir wissen aber nicht, ob das stimmt.

 

In der Philosophie wird das «problem of other minds» genannt: Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt, etwas oder jemand anderes zu sein, selbst unter Menschen nicht. Das Bewusstsein der anderen ist uns nicht zugänglich, wir können nur Folgerungen aus Verhalten schliessen. Die Gefahr dabei ist, unsere Bedürfnisse und Empfindungen auf andere zu übertragen, weil das das Einzige ist, was wir kennen.

 

Eines dieser Bedürfnisse ist der Schutz der eigenen Art. Wir unterstellen Tieren ein Interesse daran, dass ihre Art fortbesteht, vielleicht ist es einem Gorilla aber egal, ob es nach ihm noch weitere Gorillas gibt. Artenschutz ist ein oft genanntes Argument für die Daseinsberechtigung von Zoos, auch Dag Encke führt es in unserem Gespräch an. Und es stimmt, ohne die Nachzucht würde es manche Arten schon bald nicht mehr geben. Alle Menschenaffen – ausser dem Menschen – werden entweder als vom Aussterben bedroht oder als stark gefährdet eingestuft. Derzeit entscheiden wir uns dafür, im Sinne der Arterhaltung die Freiheit individueller Tiere zu beschneiden, indem wir sie in Zoos halten und darüber entscheiden, ob und mit wem sie sich fortpflanzen. Denkt man aber die Tierrechte radikal zu Ende, müsste man aus Respekt vor der Freiheit einzelner Tiere ganze Arten aussterben lassen.

 

Wiegt das Leben eines Individuums mehr als das Überleben einer Art? Dag Encke sagt: «Es ist ein ausschliesslich menschliches Verständnis, dass Tiere ein Recht auf Leben reflektieren.» Das Leben der meisten Lebewesen basiere auf dem Töten anderer Lebewesen, es sei deswegen für uns Menschen auch nicht grundsätzlich verwerflich zu töten. Oft sei das sogar geboten, etwa wenn wilde Populationen zu gross werden und andere gefährden. «Wer heute noch so naiv ist zu glauben, wir schmeissen Tiere in die Wildnis, und dann ist gut, der hat die Welt nicht verstanden», sagt er. Dafür gebe es schlicht keinen Platz mehr.

 

In Botswana etwa haben sich die Elefanten so stark vermehrt, dass sie mehr und mehr in menschliche Siedlungsgebiete drängen. Das Land hob deswegen vor drei Jahren ein fünfjähriges Jagdverbot auf Elefanten wieder auf. Wir töten eher Elefanten, als von Elefanten getötete Menschen zu riskieren. «Ich glaube, wir werden immer der eigenen Spezies den Vorrang geben, und ich halte es für unaufrichtig, etwas anderes zu behaupten», sagt Dag Encke.

 

Bitte keine Dogmatik!

 

Unser Leben jedenfalls würde sich nicht gross ändern, wenn wir die Vögel aus den Volieren im Zoo befreiten. Es würde sich sehr viel mehr verändern, wenn wir die Milliarden Schweine, Kühe und Hühner aus der sogenannten Nutztierhaltung befreiten. Saskia Stucki findet es zweitrangig, über Zootiere zu diskutieren, solange es die Massentierhaltung gibt. «Es gibt so viel Tierleid, dass man Prioritäten setzen muss», sagt sie. Wir schlachten jedes Jahr weltweit rund 70 Milliarden Tiere (Fische nicht eingerechnet, denn die werden in Statistiken nur in Gewicht aufgeführt), das bedeutet, wir töten in anderthalb Jahren so viele Tiere, wie jemals Menschen auf der Erde gelebt haben. Die Nutztierhaltung ist der riesige Elefant im Raum, wenn wir über unseren Umgang mit Tieren sprechen.

 

Über Menschen, die Tiere essen und gleichzeitig Rechte für sie einfordern, schrieb der irische Romanautor und Essayist Oliver Goldsmith im 18. Jahrhundert: «Sie haben Mitleid, und sie essen die Objekte ihres Mitleids.» Und ja, auch Tiere essen Tiere. Uns unterscheidet aber, dass die meisten von uns es nicht müssen (es mag Regionen auf der Welt geben, in denen es ohne Fleisch nicht geht, in der Schweiz etwa ist das aber kein Problem). Und im Unterschied zu fleischfressenden Tieren können wir darüber nachdenken, wie moralisch vertretbar es ist, andere Lebewesen zu essen. Warum sollten wir uns an Tierarten orientieren, die keine andere Wahl haben?

 

Wir dürfen aber inkonsequent sein, denn wir sind Menschen, und es liegt in der Natur des Menschen (und vermutlich auch der meisten anderen Tierarten), inkonsequent zu sein. Mit dem dogmatischen Massstab, dass sich fortan alle vegan ernähren müssten, würde man nicht weit kommen. Womöglich wird der Fortschritt uns helfen: Zellbasiertes Fleisch aus dem Labor wird künftig immer wichtiger werden, in Singapur wurde Laborfleisch schon Ende 2020 für Restaurants zugelassen. Im November kündigten auch die USA an, zellbasiertes Fleisch für den gewichtigen US-amerikanischen Markt zulassen zu wollen. «In einem Jahrzehnt wird das relevant sein, in zwei Jahrzehnten wird es herkömmliches Fleisch vielleicht schon überholt haben», prophezeit Silvano Lieger. Die Zahl der sogenannten Nutztiere würde dann von ganz allein sinken, dort, wo jetzt ihre Futterpflanzen wachsen, könnte vielleicht wieder Wald entstehen, in dem mehr wilde Tiere Platz haben.

 

Niemand hat vor, den Himmel einstürzen zu lassen. Aber die meisten, mit denen ich sprach und deren Texte ich las, sind sich einig: In einer nicht allzu fernen Zukunft wird die Menschheit auf die heutige Zeit zurückblicken und beschämt darüber sein, wie wir mit Tieren umgehen. Diese nicht allzu ferne Zukunft wird vermutlich gar nicht so anders aussehen, sie wird nur besser zu den moralischen Ansprüchen passen, die wir heute schon haben.

 

Ich jedenfalls will wenigstens versuchen, diesem Anspruch Taten folgen zu lassen, und mache einen Spaziergang mit meiner Mitbewohnerin Koda, sie ist ein kleiner weisser Hund. Saskia Stucki hatte mir erzählt, dass sie ihrem Hund bei Spaziergängen so viel Autonomie wie möglich gebe. Ich will also Koda entscheiden lassen, welchen Weg wir gehen. Sie bleibt stehen. Ich warte. Sie setzt sich hin. Ich warte. Sie schaut mich an. Ich warte. Es passiert nichts. Nicht nur wir Menschen werden lernen müssen, mit der neuen Freiheit umzugehen.

Das Magazin 2023

FOTOS Bastian Thiery, 
Peter Fisher