Ich werde euch zerstören!

 

Vor der Südküste Spaniens greifen Orcas plötzlich Boote an. Warum nur tun sie das? Ich habe die Perspektive eines Killerwals eingenommen und nach Antworten gesucht.


Ich habe etwas getan, was euch Menschen verstört. Vielleicht haben auch die Jungtiere damit angefangen, wer kann das schon so genau sagen? Wären es nur sie gewesen, hättet ihr das weniger schlimm gefunden, den Jungen sieht man mehr nach. Aber ich bin nicht mehr jung. Ihr schätzt mein Alter auf achtzehn, nach euren Massstäben bin ich also gerade volljährig, nach unseren schon längst. Ihr glaubt, dass wir Weibchen so alt werden können wie ihr und unsere Männchen ungefähr fünfzig. Wir haben zwar keine natürlichen Fressfeinde, aber wir leben trotzdem gefährlich, euretwegen. Doch nun lebt auch ihr in unserer Nähe gefährlich. Ihr versucht uns zu meiden. Wenn ihr unsere Flossen aus dem Wasser ragen seht, dann flüchtet ihr. Denn wir greifen euch an.

 

Tun wir das, oder spielen wir nur? Ihr wisst es nicht, wie so vieles nicht. Es ist an der Zeit, euch ein paar Dinge zu erklären. Wenn ihr versuchen wollt zu verstehen, warum wir eure Boote zerstören, müsst ihr versuchen, uns zu verstehen. Wir sind Orcas, Wale, und darunter die grösste Art der Familie der Delfine. Manchmal nennt ihr uns auch Schwertwale, wegen unserer Rückenflossen, wissenschaftlich Orcinus orca, oder Killerwale, weil wir auch andere Wale töten. Vermutlich werdet ihr uns nun vermehrt Killerwale nennen. Denn ihr habt jetzt Angst vor uns.

 

Menschen, die uns in Schwimmbecken halten und Kunststücke vorführen lassen, behaupten, dass wir nur ungefähr dreissig Jahre alt werden können, das ist aber eine Lüge. Wir werden nur in Gefangenschaft nicht älter. Das Leben in einem Schwimmbecken muss furchtbar sein. Ich kann es mir nicht vorstellen, ich habe noch nie in Gefangenschaft gelebt. Ich bin frei. Die meisten von euch Menschen finden das schön. Ihr findet es toll, wenn wilde Tiere frei sind, es rührt euch. Aber eure Begeisterung für unsere Freiheit hat eine klare Grenze. Wenn es nach euch ginge, dürfen wir wild sein, wir dürfen andere Tiere angreifen, sie vertreiben, verletzen, jagen (ihr liebt unsere Jagdtechniken) oder fressen. Alle ausser einer Tierart: euch. Aber es geht nicht immer nach euch, schon gar nicht im Meer.

 

Ich habe diese unsichtbare Grenze zwischen uns Walen und euch Menschen aufgehoben, dank der ihr euch so sicher gefühlt habt. Angriffe von Walen kennt ihr nur aus «Moby-Dick». Das Buch beruht auf dem tatsächlichen Angriff eines Pottwals auf ein Walfangschiff vor zweihundert Jahren; damals waren eure Schiffe noch klein genug, dass wir Wale uns gegen sie wehren konnten. Heute sind wir gegen euch chancenlos. Oder fast. Denn wegen mir habt ihr euer Gefühl von Sicherheit verloren. Vielleicht war es an der Zeit, dass ihr merkt, dass es immer nur einseitig war.

 

Ihr nennt mich nun Gladis Blanca, abgeleitet von Orca gladiator, einem unserer ersten volkstümlichen Namen. Davor war ich bloss eine Karteinummer, A-0123 oder Oo_GIB_0604 oder IB33 Estrella, je nachdem, welche eurer Forschungsorganisationen man fragt. Manchen von uns habt ihr Namen gegeben, Mario oder Toni oder Bartolo. Warum nicht mir?

 

Einer von euch sagt, ich hätte keinen Namen verdient, weil ich zu unbedeutend war. Jetzt habe ich einen, und ihr werdet ihn nicht vergessen. Denn ich habe mit etwas begonnen, das nicht mehr aufzuhalten ist, sogar wenn ich selbst wieder damit aufhören würde. Es ist jetzt zu spät, wir sind schon zu viele.

 

Um eines gleich klarzustellen: Wir haben noch nie einen von euch Menschen umgebracht, ausser in Gefangenschaft, und auch da nur vier. Nicht viele, wenn man bedenkt, dass ihr uns als Kinder unseren Müttern weggenommen, mit anderen Orcas aus anderen Meeren zusammengesperrt und uns dann mit Futterentzug auf Kunststücke abgerichtet habt.

 

Wir sind gross, wir sind schwer

 

Wir Orcas leben überall in den Weltmeeren, selbst in der Arktis und der Antarktis, wir sind das am weitesten verbreitete Säugetier, nach euch Menschen natürlich. Wir teilen uns in mehrere Arten auf. Ich bin ein Iberischer Orca, so nennt ihr uns, weil wir vor der Küste der Iberischen Halbinsel leben. Mit den Orcas im Pazifik zum Beispiel haben wir nicht sehr viel gemeinsam, wahrscheinlich würden wir sie nicht einmal verstehen, wenn sie versuchten, mit uns zu sprechen. So wie ihr Menschen aus einer anderen Gemeinschaft nicht versteht, wenn ihr nicht ihre Sprache lernt. Orcas im Allgemeinen sind sehr gross, vier bis neun Meter lang und drei bis sechs Tonnen schwer. Wir Iberischen Orcas sind ein bisschen kleiner. Natürlich könnten wir Menschen umbringen, wir können ja sogar Blauwale töten, die grössten Tiere der Welt. Aber wir greifen euch ja gar nicht direkt an, derzeit zumindest noch nicht. Nur eure Boote.

 

Alles begann im Mai vor drei Jahren. Wir hielten uns zu der Zeit vor der Südküste Spaniens auf, und da habe ich es zum ersten Mal getan. Ich habe mich angeschlichen, so wie ich es auch mache, wenn ich jage. Wenn ich still im Wasser liege, bin ich praktisch unsichtbar, wir Meerestiere «sehen» unsere Umgebung mehr mit unserem Gehörsinn als mit den Augen. Eure Boote machen das auch so, mit Sonar. Ich habe mich also angeschlichen und ein Boot gerammt, aus dem Nichts, und dann habe ich mich an dem Ruder abgearbeitet. Es hat sich bewegt, als ich mit voller Wucht dagegengestossen bin. Ich habe es auch in mein Maul genommen und daran gezerrt. Es hat mich nicht interessiert, was die Menschen an Bord machten. Vielleicht haben sie geschrien, vielleicht haben sie das Boot beschleunigt oder angehalten, es war mir egal. Ich habe so lange weitergemacht, bis ich das Ruder zerbrochen hatte. Dann bin ich fort.

 

Allein das hätte wahrscheinlich gereicht, um euch zu verstören. Ihr nennt das «abnormales Verhalten», kein Orca nirgends in den Weltmeeren greift Boote an, es gibt in euren Geschichtsbüchern nur sehr wenige historische Aufzeichnungen von solchen Fällen. Von Fällen wie mir. Hätte ich das nur einmal getan, hätte es nicht gereicht für meinen neuen Namen. Den bekam ich erst, als ich es wieder und wieder machte. Gladis Blanca. Für euch sind wir Gladiatoren. Ich sage «wir», weil ich nicht allein bin. Einige andere Orcas haben es mir nachgemacht: das Rammen, das Schlagen, das Reissen und Zerstören. Zuerst nur ein paar, dann immer mehr. Wir Orcas lernen viel voneinander, und nun lernen alle von mir. Dabei bin ich keine Anführerin. Alle Orcas, die mein «abnormales Verhalten» übernehmen, nennt ihr Gladis – Gladitaoren. Vielleicht bin ich die Anführerin der Gladiatoren.

 

Wir Orcas leben in Familiengruppen, angeführt vom ältesten Weibchen, der Matriarchin. Meine Gruppe wird von meiner Mutter angeführt. Ihr schätzt ihr Alter auf einunddreissig Jahre. Nur eine Handvoll Säugetierarten leben nach dem Fortpflanzungsalter noch lange weiter, die meisten davon sind Wale. Ihr habt dazu die Grossmutter-Hypothese entwickelt, die besagt, dass Weibchen ihr genetisches Erbe stärken, indem sie ihren Töchtern bei der Aufzucht ihrer Kinder helfen. Demnach wäre meine Mutter nur noch am Leben, um mir zu helfen.

 

Ihr nennt sie jetzt Gladis Lamari, obwohl sie noch nie etwas gemacht hat, sie schaut nur zu. Genau wie meine Geschwister Gladis Clara und Gladis Dalila, die schauen auch nur zu. Meine Kinder habe ich anders erzogen, meine Kinder machen mit. Manche von euch Menschen wollen beobachtet haben, wie ich ihnen beibrachte, eure Ruder zu zerbrechen. Mein älteres Kind, Gladis Filambres, schätzt ihr auf acht Jahre, das Geschlecht könnt ihr in dem Alter noch nicht erkennen. Es wird ein Geheimnis bleiben, bis dann die Rückenflosse im Falle eines Männchens menschengross wird oder im Falle eines Weibchens halb so gross. Dasselbe gilt für mein jüngeres, Gladis Tarik, ich habe es vor drei Jahren geboren. Ich habe es mitgenommen, wenn ich eure Boote traktiert habe, das fandet ihr erstaunlich. Ihr fandet, das zeige, wie ernst es mir mit euren Booten ist, wenn ich sogar mein Kleinkind da mit reinziehe.

 

Aber warum? Warum tun wir das, fragt ihr euch. Nehmen wir Rache für eure permanente Übergriffigkeit, für die Verletzungen, den Lärm, die leer gefischten Meere? Sind wir krank? Oder spielen wir einfach nur? Ihr habt viele Theorien, beweisen könnt ihr davon bislang keine, wahrscheinlich werdet ihr es nie können. Das findet ihr frustrierend, ihr hasst Kontrollverlust. Aber ihr müsst lernen, dass es nicht darum geht zu kontrollieren, sondern zu verstehen.

 

Wir Iberischen Orcas leben in fünf Gemeinschaften, wir sind nicht viele. Das letzte Mal, als ihr 2011 gezählt habt, waren wir höchstens fünfzig Tiere. Ganz genau wisst ihr es nicht. Noch in den letzten beiden Jahrhunderten waren wir so zahlreich, dass ihr uns beinahe immer gesehen habt, wenn ihr vor den Küsten Spaniens, Portugals oder Frankreichs mit euren Booten in See gestochen seid.

 

Ist es Spiel, oder ist es Ernst?

 

Wir zählen jetzt sechzehn Gladises, drei von uns sind Erwachsene. Wir rammen eure Boote, drehen sie oft einmal komplett im Kreis, wir traktieren die Ruder, meistens so lange, bis sie zerbrechen, manchmal allein, manchmal in Gruppen. Das kann Stunden dauern. Ihr könnt euch nicht dagegen wehren. Spielen wir nur? Eine Wissenschaftlerin findet, es sehe weniger nach Spiel aus, wenn ich und die anderen beiden Erwachsenen die Ruder rammen, als wenn die Jungen das machen. Ein anderer Wissenschaftler findet, dass wir mit der Zeit immer aggressiver werden. Manchmal lassen wir kurz von den Rudern ab, tauchen mit den Köpfen aus dem Wasser und beobachten euch Menschen in den Booten, wie ihr versucht, uns zu vertreiben, wie ihr die Küstenwache alarmiert oder uns mit euren Handykameras filmt. Ihr findet es unheimlich, dass wir euch so anstarren.

 

Vier Boote haben wir auch schon zum Sinken gebracht. Das war nicht unsere Absicht, das habt ihr schon herausgefunden, wir haben aus Versehen die Rümpfe kaputtgemacht, sodass die Boote voll Wasser gelaufen sind. Es geht uns meistens nur um die Ruder. Und es macht euch wahnsinnig, dass ihr nicht herausfinden könnt, warum.

 

Ihr versucht, diese Unbegreiflichkeit kontrollierbar zu machen, so wie ihr es am besten könnt, mit Statistiken. Mit Zahlen, die ihr in Tabellen eintragt, mit denen ihr neue Zahlen ausrechnet, von denen ihr euch erhofft, dass sie euch einen verborgenen Sinn offenbaren. Ihr versucht, unsere Vorlieben zu verstehen. 72 Prozent der angegriffenen Boote sind Einrümpfer; 67 Prozent haben Spatenruder; 12 Meter beträgt die durchschnittliche Bootslänge; 5,7 Knoten ist ihre Durchschnittsgeschwindigkeit, wenn wir sie rammen, das sind etwas mehr als 10 Kilometer pro Stunde. Ihr habt Apps für eure Smartphones entwickelt, in denen ihr unsere «Interaktionen» mit Booten in Karten eintragen könnt. «Interaktionen» ist das Wort, auf das ihr euch geeinigt habt, um nicht «Angriffe» zu sagen.

 

Ihr habt eine interdisziplinäre Taskforce gebildet, die GT Atlantic Orca, die diese Zahlen ausgerechnet hat. Sie gibt auch Empfehlungen an Menschen auf Booten, was sie tun sollen, wenn sie uns begegnen: Tempo verlangsamen, Motor stoppen, Autopiloten ausschalten, Hände vom Steuerrad nehmen, Orcas filmen – vor allem unsere Rückenflossen, an denen erkennt ihr uns (meine hat eine Kerbe im oberen Drittel). Andere sagen, ihr sollt genau das Gegenteil machen, beschleunigen und versuchen, uns zu entkommen.

 

Die Wahrheit ist: Uns interessiert nicht so richtig, was ihr tut. Selbst wenn ihr versucht, uns zu entkommen – ihr schafft es eh nicht, denn wir sind schnell, 45 km/h können wir eine Weile lang halten. Ihr habt das eingesehen. «Es gibt keine unfehlbaren Protokolle», schreibt die GT Atlantic Orca. «Es gibt keine Lösungen, dies ist eine neue Situation für alle, auch für die Orcas, mit der wir alle zum ersten Mal zu tun haben.»

 

Wie nett, dass die Experten auch an uns denken.

 

Viele Menschen glauben, dass mir vor drei Jahren etwas passiert ist. Etwas Schlimmes. Vielleicht bin ich in die Angelleine eines Segelbootes geraten, vielleicht hat mich das verletzt und traumatisiert. Und seitdem nehme ich – Rache? Ihr seid vorsichtig mit diesem Wort, ihr seid euch nicht sicher, ob wir so was empfinden können. Also manche von euch schon, die finden, wir führen einen Rachefeldzug gegen die Reichen mit ihren Segelbooten, dreissig Jahre nach dem Hollywoodfilm «Free Willy», in dem ein Junge den in Gefangenschaft lebenden Orca Willy befreit (der echte Orca Keiko wurde natürlich auch nach den Dreharbeiten nicht aus seinem Schwimmbecken befreit). Den meisten von euch dürfte klar sein, dass eine derartige Rache keine Kategorie ist, in der wir denken. In einem offenen Brief schrieben diesen Sommer mehrere Menschen, die sich auf unsere Erforschung spezialisiert haben, dass diese Darstellung menschliche Beweggründe unangemessen auf uns Wale projiziert. Sie warnten vor der Weiterverbreitung dieser Interpretation, sonst würde das irgendwann zu Rache führen – von den Seeleuten. Ihr streitet über uns. Einige der Forschenden wollen sich schon nicht mehr öffentlich äussern.

 

Dabei hätten wir schon genug Gründe, warum wir Rache an euch Menschen nehmen könnten. Denn ihr macht unser Leben hier gefährlicher, anstrengender, ungesünder, schmerzhafter und lauter. Aber wir können auch nicht einfach weg, hier ist unser Zuhause. Nicht nur, weil das schon immer so war, sondern wegen des Roten Thuns, den ihr auch Blauflossen-Thunfisch nennt. Von dem ernähren wir Iberischen Orcas uns und unsere Kinder, die meisten von uns ausschliesslich. In anderen Meeren fressen Orcas Lachs oder Robben oder Wale, wir sind sehr verschieden.

 

Zwischen Afrika und Europa

 

Im Frühling schwimmen die Thunfische vom Atlantik ins Mittelmeer, um dort zu laichen. Dafür müssen sie durch die sechzig Kilometer lange und bis zu vierzig Kilometer breite Strasse von Gibraltar. Sie ist an einigen Stellen relativ flach, und da fangen wir die Thunfische ab, wir tauchen ungern tiefer als dreihundert Meter. Wir warten auf sie in einem Abstand von hundert bis hundertfünfzig Metern, manchmal sind wir zu siebt, manchmal sind wir weniger. Wir können hören, wenn sie kommen. Wenn wir sie finden, jagen wir sie eine halbe Stunde lang bis zur Erschöpfung, so kriegen wir die kleinen bis mittelgrossen Thunfische, die grossen sind zu schnell für uns. Die kriegen wir, weil ihr sie für uns auffädelt. Eure marokkanischen und spanischen Flotten fangen die Thunfische nämlich auch hier in der Meerenge zwischen Afrika und Europa. Wir müssen nur warten, bis ihr sie an der Leine habt, dann nehmen wir sie euch weg. Manchmal werft ihr deswegen mit Steinen nach uns. Wir nehmen das in Kauf, denn wir sparen sehr viel Energie, wenn wir euch den Fisch klauen, und die brauchen wir, um unsere Kinder grosszuziehen. Als der Thunfisch 2005 überfischt war, weil ihr Menschen euch nicht an eure eigenen Quoten gehalten habt und dann die Fischerei pausieren musste, hat keines unserer Kinder überlebt.

 

Wer hier überleben will, muss hart im Nehmen sein. Über unsere Köpfe schwimmen unzählige Frachter, Fähren, Segelschiffe, Sport- und Whale-watching-Boote. Es kommt häufiger vor, dass wir mit ihnen kollidieren, in ihre Propeller oder Angelleinen geraten. Wir Iberischen Orcas sind alle mit Narben übersät, einigen von uns fehlen Flossen, einige Mütter haben ihre Kinder verloren und einige Kinder ihre Mütter. Ihr traut uns das vielleicht nicht zu, aber wir Orcas trauern lange; wenn eine Mutter ihr Kind verliert, trägt sie es oft noch tagelang bei sich. Ich würde dasselbe tun, wenn Gladis Tarik sterben würde.

 

Geht es uns um unsere Kinder? Wir haben eine enge Beziehung zu ihnen. Wir haben viel Zeit, uns auf sie vorzubereiten, wir sind achtzehn Monate lang schwanger. Wir säugen sie ungefähr ein Jahr lang, aber sie sind noch mindestens ein weiteres Jahr komplett von uns abhängig. Wir Mütter helfen uns untereinander, wir passen manchmal auf die Kinder der anderen auf, so wie ihr Menschen auch. Wenn sie Weibchen sind, bleiben unsere Kinder ein Leben lang bei uns. Die Männchen müssen die Gruppe verlassen, wenn sie ausgewachsen sind, aber wir sehen uns immer noch ab und zu. Unsere Kinder sind übrigens auch der Grund, warum wir Mütter nicht ganz so stark mit Polychlorierten Biphenylen (PCB) belastet sind wie unsere kinderlosen Artgenossinnen oder die Männchen. Wir laden die Chemikalien auf sie ab. Ja richtig, wir tragen giftiges PCB in unseren Körpern, das ihr erst überall in der Umwelt verteilt und dann in den Achtzigern in Europa wieder verboten habt. Das ist der Nachteil, wenn man am Ende der Nahrungskette steht, es kommt alles bei einem an, das kennt ihr ja auch. Wir Iberischen Orcas sind so stark mit PCB belastet, dass es uns krank macht. Ihr glaubt, dass das wahrscheinlich unsere Population verkleinert.

 

Oder können wir ganz einfach euren Lärm nicht mehr ertragen? All eure Frachter, Fähren, Segelschiffe, Sport- und Whalewatching-Boote, eure Bauarbeiten an Offshore-Windparks und eure militärischen Übungen sind sehr laut. Unter Wasser breitet sich Schall gut viermal schneller aus als an der Luft, Lärm ist im Wasser also gewissermassen lauter. Und unser Gehör ist sehr sensibel. Unter allen Zahnwalen sind wir Orcas am empfindlichsten für niedrige Frequenzen. Schiffe erzeugen tieffrequente Töne, sie sind unter Wasser über Hunderte von Kilometern weit hörbar.

 

Was das mit uns macht? Wie ich schon sagte, wir «sehen» mit unserem Gehörsinn, wir benutzen Klicklaute, um Dinge zu orten. Wegen eures Lärms sehen wir schlechter, den Thunfisch zum Beispiel. Und wenn wir einander mit Pfeiflauten rufen, müssen wir das lauter tun als normalerweise. Wir müssen schreien, das kostet uns viel Energie. Euer Lärm setzt uns unter chronischen Stress, und wenn er besonders stark wird, verletzt er unsere Gehörgänge und macht uns taub. Manche von euch glauben, wir rächen uns nun für den Lärm, der vor drei Jahren wegen eurer Pandemie ganz plötzlich aufgehört und dann wieder angefangen hatte.

 

Spiel mit unseren Kindern

 

Andere glauben, wir haben uns mit Toxoplasmose infiziert, einem Parasiten, der die Denkweise und die Persönlichkeit seiner Wirte verändern kann. Der wird von Katzen übertragen, mit denen wir zwar natürlich nicht in Berührung kommen, vielleicht aber mit ihrem Kot, wenn ihr Menschen ihn in der Toilette runterspült und das Abwasser ungeklärt ins Meer einleitet, wie ihr das in dieser Gegend tut. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.

 

Einige von euch meinen, die Erklärung sei viel einfacher: Wir spielen. Die Ruder bewegen sich, wenn wir sie rammen und daran zerren, ihr glaubt, das macht uns Spass. Und ihr glaubt, dass wir Orcas das Spielen nutzen, um unseren Kindern das Jagen beizubringen. Vielleicht habe ich vor drei Jahren also einfach nur angefangen, mit meinem ersten und dann auch mit meinem zweiten Kind zu spielen. Dass so viele andere Orcas anfingen, es uns gleichzutun, liegt in unserem Naturell, wir kopieren einander. In den Achtzigern zum Beispiel fing ein Orca-Weibchen im Nordostpazifik an, einen toten Lachs auf dem Kopf zu tragen. Immer mehr Orcas machten es ihr nach, nach einigen Wochen hörten sie damit wieder auf. Ihr nennt das «Fad», entlehnt aus dem Englischen bezeichnet ihr damit eine sehr kurzlebige Mode.

 

Nur ist die Sache mit den Booten kein «Fad», dafür geht sie schon zu lange. Sie ist nun Teil unserer Kultur und könnte über Generationen hinweg weitergegeben werden, aus purer Konformität. Das muss nicht immer Sinn machen. Ihr glaubt zum Beispiel, dass wir Wale manchmal in Massen stranden, weil wir einem kranken Leittier folgen und der kulturell vermittelte Zwang, in der Gruppe zu bleiben, stärker ist als unser Überlebensinstinkt. Wir tun das, was die anderen tun. Meine Kinder Gladis Filambres, Gladis Tarik und all die anderen Gladises könnten weiterführen, was ich angefangen habe, vielleicht weit über meinen Tod hinaus.

 

Es ist euer Horrorszenario, dass ihr eines Tages vor keinem Orca mehr sicher sein könntet. Ihr macht Bücher und Filme aus dieser Urangst vor degenerierten wilden Tieren, die nach euren Leben trachten. Davon wollt ihr uns natürlich abbringen. Es ist euch ernst, sogar die Marine habt ihr involviert. In Portugal setzt ihr auf akustische Signale, mit denen ihr uns von den Rudern fernhalten wollt. Oikomi-Rohre zum Beispiel, einfache Metallrohre, deren eines Ende haltet ihr ins Wasser, und am anderen Ende schlagt ihr mit einem Hammer drauf. Die habt ihr auch schon benutzt, um uns von Öllecks fernzuhalten. Oder elektronische Geräte, die ein Geräusch abgeben, das wir nicht mögen. Die benutzt ihr etwa in Norwegen, um uns von Fischernetzen fernzuhalten, in denen wir uns verheddern könnten. Oder ein neues Gerät, das ihr direkt neben dem Bootsruder einbauen wollt, das entwickelt ihr gerade im Süden Portugals.

 

In Portugal glaubt ihr, dass irgendwas davon funktionieren wird. In Spanien nicht. Dort glaubt ihr, dass uns die Geräusche schaden könnten oder dass wir uns einfach an sie gewöhnen werden und weitermachen wie bisher. In Spanien entwickelt ihr Stachel für die Ruder, von denen ihr wiederum in Portugal glaubt, dass sie uns schaden könnten. Genau wie die Sender, mit denen ihr zwei von uns in spanischen Gewässern beschossen habt, um zu verfolgen, wo wir sind. Sie bohren sich mehrere Zentimeter tief in unsere Speckschicht und fallen nach einigen Wochen wieder ab, in Portugal habt ihr Angst, dass sie uns verletzen könnten. Das wollt ihr nicht riskieren. Ihr streitet euch darüber, was das Richtige zu tun ist. Ihr seid euch nur einig darüber, dass ihr etwas tun müsst. Denn die Rache der Seeleute kommt. Sie bewerfen uns mit Feuerwerkskörpern, Sand und Benzin, manche haben sogar mit Waffen auf uns geschossen. Wir sind nicht viele. Laut der Weltnaturschutzunion sind wir Iberischen Orcas vom Aussterben bedroht. Die Menschen mit den Booten zu beschützen bedeutet, auch uns zu beschützen.

 

Aber all eure Ideen müssen bis nächsten Frühling warten. Denn im Winter ziehen die Thunfische weiter, und wir auch. Während der kalten Jahreszeit verschwinden wir. Ihr wisst nicht, wohin. Wie so vieles nicht.

 

Eine Gewissheit kann ich euch aber geben: Das Meer ist unser Lebensraum, nicht eurer. Es würde helfen, wenn ihr euch hier ein wenig mehr wie Gäste verhalten würdet. Haltet Abstand, lärmt nicht rum, macht keinen Dreck, und esst uns nicht alles weg. Ich kann euch nicht versprechen, dass wir dann eure Boote in Ruhe lassen. Wir sind wilde Tiere, wir tun, was wir wollen. So wie ihr.

 

 

DIE ORCA-PERSPEKTIVE

 

Dieser Text ist eine bestmögliche Annäherung an die Realität von Gladis Blanca. Da die Autorin das Orca-Weibchen nicht befragen konnte, konsultierte sie eine Reihe von Forschenden: die Meeresbiologin Monica González, die für die galicische Nichtregierungsorganisation CEMMA die Erforschung von Meeressäugetieren koordiniert und Mitglied der GT Atlantic Orca ist; die Biologin Marina Sequeira vom portugiesischen Institut für Naturschutz und Forstwirtschaft, die sowohl Mitglied der GT Atlantic Orca ist als auch der portugiesischen Taskforce, die wegen des Verhaltens der Orcas neu ins Leben gerufen wurde; den Meeresbiologen Jörn Selling, der bis vor kurzem für die Stiftung firmm in Tarifa Meeressäuger erforschte und Whalewatching- Ausfahrten leitete; und den Meeresforscher Renaud de Stephanis, der die spanische Nichtregierungsorganisation Circe mit gegründet hat, die Orcas im Auftrag des spanischen Umweltministeriums besenderte und nun ein Bootsruder mit Stacheln entwirft.

Das Magazin 2024

ILLUSTRATIONEN Micha Huigen