Früher stand Portugal für Billigmode aus Europa. Heute fertigen nachhaltige Labels ihre Mode dort. Kann sein, dass hier gerade die Zukunft der Modeindustrie beginnt.
Von den rund 1.000 Menschen im Dorf ist kein einziger zu sehen, weder auf den krummen Kopfsteinpflasterstraßen noch in den Fenstern der pastellfarben gestrichenen Häuser. Das Örtchen Malta im
Nordwesten Portugals scheint in einen ewigen Sonntag versunken. Und doch ist hier eine der vielversprechendsten Entwicklungen der Modeindustrie im Gange. Eine Entwicklung, die einen Vorgeschmack
auf die Zukunft der Branche gibt.
Entsprechend futuristisch wirkt die Fabrik des Textilunternehmens Valérius: Der hohe, dunkelblau schimmernde Turm erinnert an ein Raumschiff, das aus Versehen in diesem Dorf gelandet ist. Das Vordach der langen Halle dahinter ist so groß, dass die Transporter darunter wie Spielzeugwagen aussehen. In dieser Fabrik macht Valérius seit rund drei Jahren etwas, was lange Zeit niemandem in der Modeindustrie in den Sinn gekommen ist: aus alten Textilien neue.
Das Projekt trägt den Namen Valérius 360, im Sinne von 360 Grad, denn das Unternehmen biegt hier die Linie zu einem Kreis: Statt dass Textilreste im Müll landen, werden sie klein geschreddert und
zu neuen Garnen gesponnen. Das EU-Förderprogramm Portugal 2020 hat das 25-Millionen-Euro-Projekt des Unternehmens zu einem Viertel mitfinanziert. Zu den Kunden von Valérius zählen das deutsche
Label Armedangels, die Marke COS unter dem Dach von H&M und das Londoner Label Pangaia.
Der Großteil der Kleidung, die in Deutschland und den meisten anderen Ländern verkauft und getragen wird, stammt aus China und Bangladesch. Spätestens seit vor zehn Jahren die
Rana-Plaza-Textilfabrik einstürzte und mehr als 1.000 Näherinnen unter sich begrub, ist öffentlich bekannt, wie miserabel die Arbeitsbedingungen sind, unter denen dort Kleidung gefertigt wird.
Auch die Schäden für die Umwelt sind enorm: Nach Recherchen der Umweltschutzorganisation Greenpeace vergiften jährlich etwa 40.000 bis 50.000 Tonnen Färbemittel die Wassersysteme der
Produktionsländer. Und viele weitere toxische Chemikalien belasten nicht nur die Umwelt an den Produktionsstandorten, sondern auch alle, die die damit behandelten Kleidungsstücke tragen.
Hinzu kommen die Emissionen, die beim Transport um die halbe Welt entstehen. Und die nehmen zu. Statt mit Schiffen wird Kleidung nämlich immer häufiger mit Flugzeugen transportiert, denn es muss
schnell gehen. Die Zahl der neuen Kollektionen pro Jahr hat sich seit der Jahrtausendwende vervielfacht. Laut der Unternehmensberatung McKinsey bringt der Moderiese Zara pro Jahr mittlerweile 24
Kollektionen raus, da bleibt keine Zeit, die Kleidungsstücke über Wochen von Asien nach Europa zu verschiffen.
Marken, die es anders machen wollen, wählen immer häufiger Portugal als Produktionsstandort. "Made in Portugal" ist zum Aushängeschild für ökologische und faire Textilien avanciert – mit dem man
sich gerne schmückt. Das versuchte etwa auch der deutsche Influencer Fynn Kliemann, als er 2020 fälschlicherweise behauptete, in Portugal gefertigte Corona-Schutzmasken zu verkaufen. Tatsächlich
stammten die Masken aus Bangladesch.
Portugal blickt auf eine lange Tradition als Textilien- und Lederverarbeiter zurück. Aber nicht immer mit dem Ruf als nachhaltiges Zentrum: Noch in den Neunzigerjahren galt das kleine Land auf
der iberischen Halbinsel als das "China Europas": wegen seiner niedrigen Preise, niedriger Qualität und Massenproduktion. Als die Europäische Union und damit auch Portugal um die Jahrtausendwende
den Euro einführten, stiegen die Kosten, und die Modeindustrie sah sich nach billigeren Produzenten in Asien um.
"Wir haben sehr dunkle Momente durchlebt", sagt Eugénia Teixeira. Sie leitet bei Valérius seit einem Jahr die Abteilung Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft; eine kleine energische Frau mit
langen braunen Haaren, zu ihrem Hosenanzug trägt sie Turnschuhe. Bevor sie bei Valérius anfing, arbeitete sie 28 Jahre für H&M – sie kennt die Modebranche gut. Und sie hat miterlebt, wie sich
die Industrie in Portugal neu erfand: Als mehr und mehr Marken auf die Menschenrechts- und Umweltskandale reagierten und nach verantwortungsbewussten Produktionsstandorten suchten, wurden sie bei
portugiesischen Unternehmen fündig. Laut Daten von Euratex, dem Europäischen Verband der Bekleidungs- und Textilindustrie, ist Portugal gemessen an den Arbeitsplätzen der viertgrößte
Textilproduzent der EU, hinter Italien, Rumänien und Polen.
Nach dem Offshoring – dem Verlagern der Produktionen ins weit entfernte Ausland – folgt nun also die Rolle rückwärts, das Nearshoring. Allerdings nicht nur aus lauter Verantwortungsbewusstsein:
Die Marken können so noch schneller neue Kollektionen in Läden bringen und Transport- und Lagerkosten sparen, beobachtet McKinsey in seinem Bericht The State of Fashion 2023. Aus diesem Grund
wolle auch das spanische Modelabel Mango einen Teil seiner Produktion nach Portugal verlegen, es liegt geografisch sowohl für den europäischen, als auch für den amerikanischen Markt gut.
"Portugal hatte gute Voraussetzungen, die neuen Erwartungen an Arbeitsbedingungen und Umweltschutz zu erfüllen", sagt Johannes Fürst, Gründer von Montebelo mit Hauptsitz in Porto. Als Agentur für Sourcing und Produktentwicklung hat Montebelo nachhaltige Materialien und Verfahren entwickelt, um die sozialen und ökologischen Auswirkungen der Textilproduktion zu verbessern. Portugal hat einen Mindestlohn von 760 Euro, das ist niedrig genug, um konkurrenzfähig zu sein und gerade hoch genug, damit es für die Angestellten zum Überleben reicht. Zum Vergleich: Der Mindestlohn in Deutschland ist doppelt so hoch.
Die Nichtregierungsorganisation Clean Clothes Campaign hebt dennoch positiv hervor, dass die portugiesische Verfassung eine "gerechte Vergütung" vorschreibt. "Als EU-Mitglied muss sich Portugal
an die strengen EU-Richtlinien halten, etwa was soziale Themen oder Abwässer betrifft", sagt Fürst. "Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, zu sagen: Jetzt arbeiten wir auch mit nachhaltigen
Fasern." Nur was "nachhaltig" heißen soll und darf, ist nicht immer klar. Dieser schwammige Begriff sei mit Vorsicht zu verwenden, mahnt Fürst.
"Was heißt nachhaltig?", fragt auch Ricardo Silva, Vorstandsmitglied des portugiesischen Textilverbands ATP und Geschäftsführer des Textilunternehmens Tintex. Einst gründete sein Vater die Firma,
nun führt Silva sie mit seinem Bruder weiter. Er ist 33 Jahre alt und sagt, er könne sich noch gut erinnern, wie sich der Fluss in seinem Heimatort Esposende an der Nordküste Portugals oft in
unterschiedlichen Farben verfärbte. Die Färbereien ließen damals ihre Abwässer dort noch ungefiltert ab. Mittlerweile gilt die portugiesische Modeindustrie weitgehend als sauber. Silva schätzt,
dass die portugiesischen Unternehmen zwanzig Prozent ihrer Produktion auf Biobaumwolle umgestellt haben. Biobaumwolle sei aber nicht automatisch nachhaltig, warnt er, denn sie sei oft mit anderen
Stoffen verunreinigt und müsse aufwändig gesäubert werden. Was wiederum viel Energie und Wasser koste.
Die nachhaltigste Faser ist immer noch die, die gar nicht neu hergestellt werden muss. Eugénia Teixeira führt unter das große Vordach des Raumschiffs Valérius 360, ins Innere der Fabrik. In
endlosen Reihen stapeln sich dort in Plastik gehüllte Stoffballen – Schnittreste aus den Textilfabriken im Umkreis. Alle Unternehmen der Bekleidungsbranche haben sich in der Nähe der Städte Porto
und Braga angesiedelt, nicht weit von Malta entfernt. Statt Großunternehmen mit der kompletten Produktionskette unter einem Dach, wie etwa in China, sind es hier mittelständische
Familienunternehmen, die eng miteinander kooperieren.
In den Fabriken arbeiten größtenteils Menschen aus den umliegenden Dörfern, viele wegen der vergleichsweise guten und sicheren Arbeitsbedingungen ihr ganzes Arbeitsleben lang, so beobachtet es
der Branchenkenner Johannes Fürst. Die einen Unternehmen spinnen die Garne, die nächsten stricken die Stoffe, die nächsten nähen daraus die Kleidungsstücke – und Valérius 360 sammelt nun den
Abfall ein: circa drei Tonnen jeden Tag, das entspricht etwa dem Gewicht eines Nashorns.
"Rund 25 Prozent der Stoffe landen als Schnittreste im Müll", erklärt Teixeira. Doch statt sie zu minderwertigen Produkten wie Kissenfüllungen oder Putzlappen weiterzuverarbeiten, wie es bislang
meist gemacht wird, fertigt Valérius aus ihnen wieder hochwertige Garne. Dafür befreien Angestellte die Schnittreste an einem Sortiertisch in einer der Hallen von Schmutz und Verunreinigungen und
sortieren sie nach Zusammensetzung und Farbe.
Die restlichen Arbeitsschritte werden fast ausschließlich von Maschinen ausgeführt, in den großen Hallen sind kaum Menschen zu sehen. Nach einem vierstündigen Bad in einem Weichspüler werden die
Schnittreste in lärmenden Maschinen klein geschreddert, bis aus ihnen feine Fasern geworden sind. Weil die aber zu kurz und deswegen allein zu instabil wären, müssen sie mit zwanzig bis fünfzig
Prozent – farblich passenden – Frischfasern zu neuen Garnen zusammengesponnen werden.
Zu 100 Prozent portugiesisch ist das so gesponnene Garn nicht, denn Portugal stellt keine Fasern her. Die meisten Textilfasern kommen von weit her: Weltweit wird der größte Teil der Baumwolle in
China angebaut, gefolgt von Indien, den USA und Brasilien. Valérius beziehe Baumwolle aus der Türkei, sagt Teixeira.
Neben Baumwolle kombiniert das Unternehmen die recycelten Fasern auch mit Lyocell, einer ebenfalls natürlichen Faser, die ein österreichisches Unternehmen aus Holz herstellt. Ähnliches hat das
portugiesische Papierunternehmen Altri nun auch in Galizien im Norden Spaniens vor: Unterstützt von EU-Fördermitteln will es bis 2026 eine Produktion mit Eukalyptusfasern hochziehen. Diese
Baumart steht allerdings in der Kritik. Sie wird in der Region bereits in großen Monokulturen für die Papierherstellung angebaut, verdrängt heimische Arten und verstärkt die Waldbrandgefahr.
Auch dieses Vorhaben zeigt: Die Branche wandelt sich. Die nächste große Aufgabe der Modebranche sei es nun, bereits getragene Baumwollkleidung zu recyceln, sagt Eugénia Teixeira. Wie die am besten eingesammelt, auseinandergenommen, ja von Beginn an anders designt werden muss, darüber wird in der Branche noch angestrengt nachgedacht. "Recycling ist ein Monster, es bereitet allen Beteiligten große Kopfschmerzen", sagt Eugénia Teixeira und lacht. Ein Fortschritt ist das dennoch – schließlich ist es nur wenige Jahre her, dass die Luxusmarke Burberry für einen Skandal sorgte, weil sie unverkaufte Artikel lieber verbrannte, als sie zu günstigeren Preisen zu vermarkten.
Und es ist immer noch eine absolute Nische: Recycelte Baumwollgarne machten 2021 nur rund ein Prozent der weltweiten Baumwollproduktion aus. Baumwolle ist nicht einmal die meistgenutzte Faser –
mehr als die Hälfte unserer Kleidung ist aus Plastik, Tendenz steigend. 2021 wuchs die Produktion von synthetischen Stoffen auf fossiler Basis auf 63 Millionen Tonnen, den größten Teil davon
macht Polyester aus. Auch Plastikfasern tragen immer häufiger das Prädikat "recycelt", allerdings werden sie meist aus alten Plastikflaschen hergestellt, nicht aus alten Plastikstoffen.
"Aus meiner Sicht ist es kein nachhaltiges Produkt, Kleidung aus Flaschen zu machen", sagt Johannes Fürst von Montebelo. "Es macht viel mehr Sinn aus Flaschen neue Flaschen zu machen."
Plastikflaschen können bis zu zehnmal recycelt werden, verarbeitet man sie zu Kleidung weiter, durchbricht man diesen Kreislauf und macht aus ihnen umweltschädlichere Produkte: Synthetische
Stoffe geben bei jedem Waschgang Mikroplastik ab. Trotzdem rühmen viele Marken sich damit, Kleidung aus recycelten Plastikflaschen herzustellen – ein klassischer Fall von Greenwashing. Eine
Untersuchung der Nachhaltigkeitsangaben in der Textil-, Bekleidungs- und Schuhbranche in der EU aus dem Jahr 2020 ergab, dass 39 Prozent davon falsch oder irreführend sein könnten.
Das ist eines der Probleme, die die EU-Kommission mit ihrer neuen "Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien" im Rahmen des Green Deals angehen will. Sie sieht strengere Vorschriften für die Haltbarkeit, Wiederverwendbarkeit und Umweltfreundlichkeit von Textilien vor – auch für jene, die importiert werden. Portugal wird das in die Hände spielen. Darin sind sich Ricardo Silva und Johannes Fürst einig: Das Land wird künftig noch an Bedeutung gewinnen.
Die Zeit 2023
FOTOS Matilde Viegas