Zeitreise

 

Zwischen Deutschland, Belgien und Frankreich überrascht das kleine Luxemburg mit dem abwechslungsreichen Mullerthal Trail. Er führt durch dichte Wälder und bizarre Felsen in eine andere Zeit. 


Das erste Anzeichen dafür, dass es nun Richtung Vergangenheit geht, ist das unbeständige Mobilfunknetz. Ja, Luxemburg ist bekannt als internationales Finanzzentrum und Sitz europäischer Institutionen wie des Gerichtshofs und der Investitionsbank, also durchaus als ein Ort der Moderne. Aber in der Region Müllerthal, rund zwanzig Kilometer östlich der Hauptstadt, ist davon nichts zu spüren. Hier winden sich schmale Straßen um imposante Felsen, plätschernde Bachläufe treiben Mühlräder an, und dichtes Moos deckt die Gesteinsbrocken im Wald zu. Hier blieb die Zeit stehen, manchmal vor wenigen Jahrzehnten und manchmal vor tausenden von Jahren.

 

„Manche sagen, es ist wie im Hobbitland“, erzählt Anette Peiter. Die Geografin und Umweltwissenschaftlerin führt uns über gewundene Waldwege zur Huel Lee, dem ersten Halt unserer Zeitreise. Der Name bedeutet übersetzt „hohler Fels“, noch besser würde eigentlich „ausgehöhlter Fels“ passen, denn diese stattliche Höhle hat erst der Mensch zu einer solchen gemacht. Warum schon die Römer hier Gestein abtrugen, lässt sich an den kreisrunden Formen ablesen, die sich durch das Gewölbe ziehen: Im Lauf der Jahrhunderte schnitten die Menschen mit Seilen und Meißeln Mühlsteine aus dem Sandstein.

 

Der Bedarf an Steinen war groß, einst mahlten in der Region rund hundert Wassermühlen das Korn zu Mehl. Davon sind nur noch drei übrig – und nur eine ist tatsächlich noch in Betrieb –, aber sie gaben der Gegend und dem Wanderweg, der sie durchkreuzt, ihren Namen. Anette Peiter hat den Mullerthal Trail mitentwickelt und vor zwölf Jahren eröffnet, seitdem ist die gebürtige Saarländerin geblieben. Es war einfach zu schön, um wieder zu gehen.

 

Bittet man die 44-Jährige um Tipps zu ihren Lieblingsorten, kreist sie eilig einen nach dem anderen auf der Wanderkarte ein. Die Karte zeigt drei große Schlaufen, mit insgesamt 112 Kilometern. Empfohlen wird, diese in sechs Tagen zu laufen. „Viele der Wege sind über hundert Jahre alt“, erzählt Peiter. „Das war eine historisch gewachsene Mischung aus Rund- und Streckenwegen, die unterschiedlich markiert und damit nicht sehr nutzerfreundlich waren.“ Die drei von ihr entworfenen großen Routen lassen sich nun gut aufteilen. Weil sie durch und über viele Felsen führen, verlangen sie zwar eine solide Kondition, überfordern aber nie. Und sie führen an allen Highlights vorbei.

 

Gegenüber der Huel Lee liegt ein weiteres davon: das Amphitheater, ebenfalls vom Menschen geformt. Eine Wanderin steigt über die leeren Sitzbänke hinunter zur Bühne und setzt zu „Hallelujah“ an. Es hallt von den Felswänden wider und vermischt sich mit dem Vogelgezwitscher aus dem Wald, Sonnenstrahlen fallen durch das leuchtend grüne Blätterdach. Es ist einer dieser Momente, die man gerne in einem Glas einfangen und mitnehmen würde, um es zu Hause wieder aufschrauben und von der Magie zehren zu können. Große Veranstaltungen gibt es im Amphitheater nur selten, „das Abenteuer ist die Natur selbst“, sagt Peiter. 

 

Die ist so beeindruckend, dass Besucher aus dem belgischen und niederländischen Flachland die Gegend „Kleine Luxemburger Schweiz“ tauften. Und nun geht es ganz weit zurück in der Erdgeschichte, denn wie ihr Namensvetter, die Sächsische Schweiz, war die Luxemburger Schweiz vor 200 Millionen Jahren einmal ein Meer. Als das Wasser verschwand, ließ es Sedimentgesteine zurück, in die sich im Verlauf der Jahrtausende die Flüsse immer tiefer gruben. Zurück blieben steile Felswände, Plateaus und Hügel. Wegen dieser Besonderheit wurde die Region 2016 zum Natur- und Geopark.

 

Eindrucksvoll zu sehen ist die geologische Entstehungsgeschichte an den massigen Felsen in der Ruetsbechschlëff. Dort schieben wir uns durch so enge Schluchten zwischen den Sandsteinbrocken hindurch, dass wir manchmal sogar die Rucksäcke abnehmen müssen. Am Ende öffnet sich der Blick auf die felsige Lichtung im Wald. „Wenn es Kraftorte gibt, dann ist das hier einer“, sagt Anette Peiter und lächelt zufrieden. Jetzt will sie uns aber noch eine Besonderheit zeigen: Weil die Felsen auf Lehmboden stehen, rutschen oder kippen sie ganz langsam hangabwärts, dadurch haben sie die „Räuberhöhle“ geformt, und in die kriechen wir nun auf allen Vieren hinein. „Gebt auf die Feen und Kobolde hier drin acht“, warnt unser Wanderführer Gilles Wunsch, und wir sind versucht, ihm zu glauben, so fabelhaft sieht es aus. Er nimmt uns dann auf dem Mullerthal Trail mit zum Wahrzeichen der Region, dem Schéissendëmpel. Dessen Name mag zum Kichern verleiten, beim Anblick des Wasserfalls, der unter einer verschnörkelten Holzbrücke talabwärts plätschert, vergeht einem der Blödsinn aber garantiert, so schön ist er. 

 

Schiessentümpel heißt das Prachtstück im Deutschen, und dort bleiben wir erst mal in der Zeit der Märchen. Die Steine der Trockenmauern sind dicht von Farnen und Moosen bewachsen, und wer genau hinsieht, der entdeckt in ihnen die Gesichter von Fabelwesen. Man kann sich hier die Epoche aussuchen, in die man sich zurückversetzen möchte: Der Wanderweg führt vorbei an Burgen und Renaissanceschlössern, durch die älteste Stadt Luxemburgs, Echternach, deren Ringmauern auf das 10. Jahrhundert zurückgehen, und vorbei an Luxushotels, die wie blumige Zeitkapseln aus den Fünfzigerjahren wirken.

 

Empfehlenswert ist auch ein Stopp in den Dreißigerjahren, verborgen in der Burgruine zu Füßen des kleinen Örtchens Beaufort. Zu der Zeit begann das Ehepaar Linckels dort mit der Produktion von Cassero, einem Johannisbeerlikör, der mit Champagner gemischt zu dem Aperitif Kir Royal wird. Wir probieren ihn in dem kleinen Ausschank neben der Ruine, bevor wir noch etwas beschwingter dem Wanderpfad weiter in den Wald folgen. 

 

Die Wälder gaben der Region einst ihren Namen: Als Luxemburg noch kein eigener Staat war, gehörte es zum französischen Département des Fôrets, dem Departement der Wälder – und davon gibt es heute immer noch viele. Aber auch über einen kleinen Weinberg und entlang des Grenzflusses Sauer führt unsere Route, in Luxemburg scheint alles eng zusammenzurücken. „Es ist das Land der kurzen Wege“, sagt unser Führer Gilles Wunsch.Trotz der nun schon 130 Jahre währenden Unabhängigkeit sprechen seine Bewohner neben dem etwas gewöhnungsbedürftig klingenden Lëtzebuergesch beinahe alle fließend Französisch und Deutsch, dazu Englisch. In seiner sprachlichen und kulturellen Vielfalt ist Luxemburg seinen europäischen Nachbarn deutlich voraus. Während man also in schönster Ruhe durch die Vergangenheit wandern kann, ist eine Reise nach Luxemburg zumindest verbal auch ein kleiner Abstecher in die Zukunft.

 

Bergwelten Magazin 2020

FOTOS Roman Pawlowski