Niederlage, jeden Tag

 

In der Paketbranche herrscht Krieg, und Boten wie Sven sind das Kanonenfutter. Er weiß schon morgens, dass er sein Pensum nicht schaffen wird


Er steht jetzt auf der Straße und singt. „Andrea S.! Andrea, Andreeea!“ Dabei stapelt er Pakete auf die Sackkarre, wenn eines herunterfällt, drückt er es ungeduldig zurück auf den Stapel. Die Herbstsonne zeichnet harte Schatten auf den Asphalt, irgendwo klimpert eitel ein Windspiel. „Andrea S.“ Der Nachname ist klangvoll, er lässt sich schön singen. Aber es ist besser für Andrea und besser für ihn, wenn hier nur „S.“ steht.

 

Er nennt sich für heute Sven. Seit anderthalb Jahren arbeitet er als Paketbote für DHL. Der Name ist ein Akronym der drei Unternehmer Dalsey, Hillblom und Lynn, die den Express-Zustelldienst Ende der sechziger Jahre in San Francisco gegründet haben, seit 2002 gehört er zur Deutschen Post. In Deutschland ist Sven einer der 20.000 Paketzusteller des „gelben Riesen“. Aber stellen Sie sich jetzt keine gelbe Jacke mit Einsteckkugelschreiber und passender Schirmmütze vor, die trägt er fast nie. Mag er nicht. Eher so: ein athletischer junger Mann, der studiert hat und mehrere Instrumente spielt, aber nach der Uni keinen Job gefunden hat. Für den das hier eine Übergangslösung ist. „Die meisten bleiben hier nur sieben bis acht Monate“, sagt er. Es ist hart, stressig, kräftezehrend. Er hasst diesen Job.

 

Frau S. ist seine treueste Kundin. „Die bestellt alles, überall“, sagt er. Wenn er in seinem Stammgebiet ausliefert, dann liefert er auch immer etwas an Andrea S. Sehen tut er sie selten, denn meistens ist sie nicht da, wenn er mit ihren Einkäufen vor der Tür steht, dann muss er alles wieder mitnehmen. Er fährt also ihre Einkäufe spazieren. Einmal hinterließ er ihr eine zornige Nachricht: „Frau S., das geht so nicht.“ Aber das stimmt natürlich nicht. Er weiß und Andrea S. weiß: Das geht so sehr wohl. Andrea S. zahlt dafür nichts, er zahlt mit seinen Nerven. „Andrea, Andrea!“

 

Mehr als 3,35 Milliarden Pakete wurden letztes Jahr in Deutschland zugestellt. Das entspricht etwa 47 Paketen pro Einwohner über 15 Jahre. Das würde bedeuten, dass jeder von uns alle acht Tage ein Paket bekommen hat, also fast jede Woche eines. DHL lieferte davon mehr als 1,3 Milliarden Pakete aus. Weil die Digitalisierung unseres Konsumverhaltens noch längst nicht an ihrem Ende angekommen ist, werden all diese Zahlen immer weiter wachsen. DHL könnte als größtes Versandunternehmen sowohl in Deutschland als auch in der Welt eigentlich einer rosigen Zukunft entgegensehen. Das Problem ist nur: Ihm wachsen die Zahlen längst über den Kopf. Es sind zu viele Pakete für zu wenig Boten – für zu viel Geld. Und damit hat vor allem der größte Auftraggeber ein Problem: Amazon.

 

„Kein Kunde hat bei uns mehr als zwei Prozent unseres Gesamtumsatzes“, hatte Konzernchef Frank Appel noch diesen Sommer behauptet. Dann gelangte ein internes Vorstandspapier an die Öffentlichkeit, das ihn Lügen strafte. Tatsächlich ist Amazon der Absender von mehr als 17 Prozent der Paketmenge und genießt Sonderkonditionen: Nur 2,55 Euro muss der Onlinehändler für ein Paket zahlen, seine Marktplatzanbieter 2,97 Euro. Für andere Kunden kostet eine Paketsendung 3,79 Euro. Wenn sie wollen, dass es am nächsten Tag da ist – wie Amazon das mit seinem Prime-Angebot garantiert –, mindestens 10,90 Euro. Laut dem Papier habe DHL bereits ein Sparprogramm eingeleitet und wolle außerdem auf eine mit Amazon bereits ausgehandelte Preiserhöhung verzichten. Dem Onlinehändler ist das Angebot trotzdem noch zu teuer, er wandert deswegen zunehmend zu Billigkonkurrenten ab. Die Deutsche Post musste ihre Gewinnerwartungen um fast eine Milliarde Euro nach unten korrigieren.

 

„Amazon ist groß. Aber das sind wir auch“, hatte Jürgen Gerdes, Chef der Paketsparte, noch im April gesagt. Wenige Monate später musste er seinen Posten räumen. Der Preiskampf ist hässlich. Für das niedrigere Angebot der Billigkonkurrenten wie Hermes zahlen dessen Fahrer einen hohen Preis. Gerade erst warf die Düsseldorfer Obdachlosenhilfe Hermes vor, dass dessen Subunternehmer ausländische Boten für so wenig Geld beschäftigten, dass diese auf der Straße wohnen müssten.

 

Sven kennt die Geschichten über die Billigkonkurrenten, er weiß, dass es ihm besser geht. Aber besser als mies ist immer noch nicht gut. Sein Arbeitstag beginnt heute um 9 Uhr früh, zweite Welle, 9 bis 17 Uhr. Er wird das Depot abends trotzdem erst nach 18 Uhr verlassen. 197 Pakete liegen über- und untereinander auf seiner Rutsche, als hätte der gelbe Riese sie dorthin erbrochen. Mit der dafür adäquaten Abscheu stapelt er sie in sein Auto und freut sich leise darüber, dass er wenigstens nicht den Wagen bekommen hat, der nach Pisse stinkt. Laut Vorschrift dürfen keine Pakete auf dem Boden liegen, aber natürlich packt er wie in jeder Schicht den ganzen Boden voll und lässt nur den Gang frei. Wo soll er auch sonst mit all den Paketen hin?

 

Schon als er am Morgen die Rutsche sieht, weiß er, dass er das Pensum nicht schaffen wird. Er weiß, dass er spätestens eine Stunde vor Schluss wird abbrechen müssen, um nur noch diejenigen Pakete auszuliefern, auf die das Wort „Prio“ aufgedruckt ist – allesamt Prime-Pakete von Amazon. 27 Stück. Die müssen heute raus. Das geht natürlich zulasten all der anderen Pakete, die er wieder zurück ins Depot wird fahren müssen. Fair ist das nicht, aber Amazon hat seinen Kunden die Lieferung an diesem Tag versprochen. Und Sven muss dieses Versprechen einlösen.

 

Bereits ab der zweiten Straße droht das Meer aus Paketen ihn zu verschlucken. Sie ergießen sich nun über den ganzen Gang, dort sortiert er sie nach Hausnummern. „Würde die Polizei das sehen, müsste sie den Wagen auf Eis legen“, sagt er und sein Grinsen verrät, dass er sich das wünschen würde. Dann wäre endlich offiziell, dass das hier nicht geht. Dass es zu viel ist für nur einen Boten mit nur einem Auto. Aber er wurde noch nie kontrolliert. Er schiebt und quetscht, hüpft und tänzelt. Das Päckchen mit der Hausnummer 5 fliegt Richtung Fahrerkabine, es kullert neben den Sitz, an dem er den Gurt dauerhaft eingesteckt hat, um die Zeit für das An- und Abschnallen zu sparen. Hausnummer 43 landet unsanft neben der großen rosafarbenen Kiste.

 

„Ich habe jegliche Beziehung zu den Paketen verloren“, sagt Sven. In seinen Augen enthalten sie alle überflüssigen Kram, den eigentlich niemand braucht. Zeichen für die Wohlstandslangeweile der Menschen, an deren Türen er sie bringen muss. Die wohl nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als nach Feierabend online zu shoppen, ein T-Shirt hier, ein Wohnaccessoire da, klick, fertig. Er selbst wüsste wahrlich Besseres, als dieses Zeug durch die Gegend zu fahren, aber er kriegt pro Monat 700 Euro netto für zwei Tage die Woche, das ist immer noch besser als jeder Kellnerjob, sagt er.

 

Sven ist bei der DHL Delivery GmbH angestellt, jener Tochterfirma, die vor drei Jahren in die Kritik geriet, weil sie nicht nach Haustarif zahlt, sondern nach den regional verschiedenen, oft deutlich niedrigeren Tarifregelungen der Speditions- und Logistikbranche. Es ist ein Versuch, Kosten zu sparen, um millionenschwere Auftraggeber wie Amazon zu halten. Nur mit einem Konkurrenten hat DHL lange nicht gerechnet: mit Amazon selbst.

 

Der Megakonzern, der 1994 als Bücherversand in einer Garage begonnen hatte, weitet sein Geschäftsfeld konstant aus. Aus Büchern wurde „alles, was die Kunden online kaufen möchten“. Dazu gehören längst auch eigene Innovationen wie Kindle und Alexa, letztes Jahr kaufte Amazon die US-Biokette Whole Foods. Auch in Deutschland liefert der Konzern in Hamburg, Berlin und München Lebensmittel, und nun baut der Onlinehändler sich seine eigene Logistik-Infrastruktur auf. Seit 2016 stellte er rund 400 eigene Packstationen in ganz Deutschland auf, die nun die Auslastung der 3.200 Post-Packstationen schmälern. In rund 20 Städten liefert er unter dem Namen Amazon Logistics bereits einen Teil seiner Bestellungen selbst aus – komplett über Subunternehmer. Und bei Amazon Flex können sich Privatpersonen in Berlin und München zur Verfügung stellen, um in Vier-Stunden-Blöcken Pakete mit dem eigenen Auto auszuliefern, Werbespruch: „Seien Sie Ihr eigener Chef und arbeiten Sie nach Ihrem Zeitplan, um mehr Zeit zu haben, Ihre Ziele und Träume zu verwirklichen.“

 

Wovon Amazon träumt, zeigt ein Blick in die USA: Dort hat sich der Konzern bereits eine eigene Lastwagen- und Flugzeugflotte aufgebaut. Was genau er in Deutschland vorhat, dazu möchte er sich auf Nachfrage nicht äußern. Auch zu seinem Verhältnis zu DHL will Amazon nichts sagen, DHL ebenso wenig. Laut dem geleakten Vorstandspapier rechnet die Deutsche Post damit, dass Amazon im Jahr 2022 circa 154 Millionen Pakete selbst ausliefern wird. „Einfach. Immer. Überall.“, das ist der Slogan von DHL. Er wird bald besser zu Amazon passen.

 

Halbe Stunde Mittagspause. Eibrötchen mit Remoulade. Sie quillt an den Seiten raus, wenn Sven in das Brötchen beißt. Er isst hinterm Steuer, das Auto steht schlecht. Mit 7,14 mal 2,65 Metern steht man fast immer schlecht. Hinter ihm hupt ein Bus, er stöhnt. Eigentlich ist Sven einer dieser Menschen, denen immer ein Witz einfällt, aber so schnell die Sonne an diesem Herbsttag untergeht, so schnell sinkt auch seine Laune. Ihn nervt jetzt alles: Empfänger, die nicht da sind, Hausnummern, die sich vor ihm zu verstecken scheinen, Autos, die hinter seinem Wagen warten, fünf schwere Essenspakete, die er noch ausliefern muss, eine junge Frau, die ihn um 14 Uhr noch mit einem „Guten Morgen“ begrüßt. Er muss die Wege ohne Navigationssystem finden. Das ist für ihn schon eine Herausforderung. Für all die neuen Kollegen, die kaum Deutsch sprechen, fast unmöglich. „Und wenn ein Paket wegkommt, rate mal, wer dann haftet“, zischt Sven. Ein Kollege wurde gerade zu 200 Euro Strafe verurteilt, ein anderer eines Morgens von der Polizei geweckt, weil eine seltene Schallplatte verschwunden war, die er ausgeliefert hatte.

 

Achtzig Pakete fährt Sven am Abend in der Dunkelheit zurück ins Depot, eine Mischung aus Sendungen, die er zugunsten der Prio-Pakete übergehen musste, und solchen, deren Empfänger nicht zu Hause waren. Immerhin macht das für ihn – anders als für manche Subunternehmer – keinen finanziellen Unterschied. Es fühlt sich trotzdem wie eine Niederlage an, jedes Mal. Damit sich Svens Arbeit und die seiner Kollegen auf mehr Schultern verteilt, ging die Deutsche Post Anfang letzten Jahres eine Kooperation mit der Bundeswehr ein. Soldaten sollen jetzt Postler werden und Postler Reservisten. Zumindest wird ihnen das nahegelegt. Der Krieg, er spielt sich vor unser aller Haustüren ab.  

der Freitag 2018

FOTO Svenja Beller