Busen verboten

 

Warum manche Spitzensportlerinnen nicht erwachsen werden wollen (oder dürfen) 


Als Mirai Nagasu US-amerikanische Meisterin im Eiskunstlauf wurde, war sie 14 Jahre alt. Im selben Alter bekam die Rumänin Nadia Comăneci als erste Turnerin der Welt die Bestnote 10,0 am Stufenbarren. You Young wurde 2016 südkoreanische Meisterin im Eiskunstlauf – mit elf Jahren.

 

Turnerinnen, Tänzerinnen, Eiskunstläuferinnen, Langstreckenläuferinnen, Hochspringerinnen: Für sie alle ist es besser, ein Mädchen zu bleiben, statt eine Frau zu werden. Oft feiern sie ihre größten Erfolge in einem Alter, in dem sie noch keine fertigen Menschen sind, weder physisch noch psychisch.

 

Zu den klassischen Sportarten, in denen Kinder reüssieren, ist in den vergangenen Jahren eine hinzugekommen: das Klettern. Während man bei den anderen Sportarten tatsächlich sofort grazile Mädchen vor Augen hat, ist der archetypische Kletterer in der Vorstellung eher muskulös, rau und männlich. Man kann es schon als Errungenschaft der Frauenbewegung sehen, dass nun kleine dünne Mädchen großen starken Männern an der Kletterwand Konkurrenz machen können. Nur werden Mädchen irgendwann zu Frauen.

 

In diesem Sport ist „zu“ im doppelten Sinne ein wichtiges Wort. Wenn Kletterer nicht mehr weiterkönnen, dann rufen sie „Zu!“ und bedeuten ihren Sicherern am Boden damit, dass sie das Seil straff ziehen sollen, damit sie ihnen eine Pause gönnen. Meist sind dann auch ihre Arme „zu“ – womit ein Zustand beschrieben wird, in dem sich die Unterarme doppelt so dick wie sonst und steinhart anfühlen, in dem sie buchstäblich dichtmachen. Tatsächlich zieht sich der Muskel unter der hohen Belastung so stark zusammen, dass er die Blutgefäße abdrückt. Es kommt dann kein Sauerstoff mehr rein und keine Milchsäure mehr raus. Die Ausnahmekletterin Ashima Shiraishi beschreibt das Gefühl so, als würden die Arme gleich explodieren. Gewissermaßen liegt die Kunst des Kletterns in der mentalen Stärke, darauf zu vertrauen, dass sie nicht explodieren werden.

 

Als Ashima vor drei Jahren als erste Frau den Schwierigkeitsgrad 9a+ am Fels kletterte, war sie 13. Zwei Jahre jünger als Johanna Ernst, die 2008 mit 15 Jahren die jüngste Europameisterin aller Zeiten wurde und ein Jahr später Weltmeisterin. „Ich war einfach urstark“, sagt die Österreicherin. Vier Jahre nach ihren großen Erfolgen schmiss sie hin, mit 20.

 

Ursprünglich ging es beim Klettern nur darum, auf Berge raufzukommen, egal mit welchen Hilfsmitteln. Das Sportklettern entwickelte sich erst in den 60er-Jahren, zunächst am Fels, dann an Plastikgriffen in der Halle. Mittlerweile klettern weit mehr Menschen an den bunten Nachbauten als an echtem Fels. 2020 wird diese Art zu klettern sogar eine olympische Disziplin und zwar in den drei Spielarten Bouldern (Klettern ohne Seil in Absprunghöhe), Speed (Klettern einer 15 Meter langen, international identischen Route auf Zeit, gesichert an einem Automaten) und Lead (Klettern einer bis zu 20 Meter hohen Route mit einem Seil, das man während des Kletterns in Sicherungen einhängt). Johanna Ernst spezialisierte sich auf Lead, ebenso wie ihr Körper.

 

Mit acht Jahren hatte sie das Klettern bei einem Familienurlaub in Osttirol zum ersten Mal ausprobiert, damals war sie extrem klein und leicht für ihr Alter. Das Klettern machte ihr Spaß, sie hatte nichts dagegen, es intensiver zu betreiben – auch weil sie noch nicht ahnte, was das bedeuten würde. Trainer wurde ihr Vater, und weil der das Talent in ihr sah, nahm er das ziemlich ernst. Vormittags Schule, danach direkt zur Kletterhalle, Training bis sechs, sieben Uhr abends. Anfangs in der nächstgelegenen Kletterhalle in der Steiermark, und als sie sich dort unterfordert fühlte, jedes Wochenende im fünf Stunden entfernten Innsbruck, bis die Familie dorthin zog. Schule, Essen, Training, Schlafen. Fünf Tage die Woche. An den übrigen zwei Tagen Fitnessstudio, ungefähr drei Stunden lang. Und viel laufen. Fotos von damals zeigen Johanna mit Silberkette und einem Kurzhaarschnitt. Heute, mit 25, trägt sie ihre Haare lang, hat Tubes in den Ohren und einen Ring in der Nase. Sie ist jetzt jemand anderes. Sie ist jetzt eine Frau. 1,60 Meter groß.

 

Was sich in den Körpern junger Sportlerinnen abspielt, kann die Hormonforscherin Edda Weimann von der Universität Kapstadt erklären. „Die Pubertät findet bei Mädchen nur statt, wenn ein gewisser Fettanteil da ist“, sagt sie. Das bedeutet für die Sportlerinnen: „Erst mal keine Pubertät.“ Schmale Hüften, keine weiblichen Rundungen, keine nervigen Brüste, Monatsblutungen oder Pickel. Zu wenig Fett bedeutet eben auch zu wenig Leptin, das wahrscheinlich eines der Signalhormone für den Beginn der Pubertät darstellt – da ist sich die Wissenschaft noch nicht ganz einig. Bei normalgewichtigen Mädchen steigt der Leptinspiegel zwischen elf und zwölf Jahren an, es folgen Wachstumsschübe, Brustentwicklung, die Periode und das Ansetzen von Fett zulasten von Muskeln. Weimanns Forschungen zufolge spielt sich all das bei Spitzensportlerinnen mit niedrigem Gewicht erst zwei bis drei Jahre später ab, bei manchen noch später, bei ganz wenigen gar nicht. „Das ist ein körperlicher Sparmechanismus, Frauen im Krieg passiert das ganz genauso.“

 

Johanna Ernst bekam ihre erste Periode mit 15, und von da ab war es dann plötzlich nicht mehr egal, was sie aß. Um nicht zuzunehmen, durfte sie mittags zwischen Schule und Training nur einen Energieriegel essen, abends kochte die Mutter viel Gemüse und wenig Kohlenhydrate. „Ich wollte essen, was ich will, aber das ging nicht mehr. Bei den Profikletterinnen war keine dabei, die wie eine Frau aussah. Die hatten alle keinen Arsch in der Hose und kein Becken.“ Viele Trainer hätten das zum Ideal erhoben.

 

Hochleistungssportlerinnen rutschen überdurchschnittlich oft in eine Essstörung ab, Anorexia athletica nennt sich das. Sie versuchen ihre Körper krankhaft in den Proportionen eines Kindes zu halten. Das kann einen Dreiklang von Symptomen auslösen, der von amerikanischen Forschern Anfang der 90er-Jahre Athletinnen-Triade genannt wurde. Die Essstörungen tragen zu einer verspäteten Periode bei, danach zu Zyklusstörungen, zu wenig Östrogen schwächt die Knochenfesgkeit. Am Ende stehen Stressbrüche und Osteoporose. Dass Hochleistungssportlerinnen eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, Fruchtbarkeitsprobleme zu entwickeln, überrascht da kaum.

 

Jungen profitieren von der körperlichen Veränderung in der Pubertät, weil sie es ihnen leichter macht, Muskeln aufzubauen. Mädchen kämpfen gegen sie an. „Die Mädchen, mit denen ich geforscht habe, wussten, dass sie in den Sommer- und Winterferien in die Pubertät kommen könnten, weil sie dann weniger trainierten“, erzählt Edda Weimann – und sie fürchteten sich davor. Es ist ein offenes Geheimnis, dass vor allem Turnerinnen ihr Alter für die Olympischen Spiele fälschten, um über der 1997 eingeführten Altersgrenze von 16 Jahren zu liegen. Wenn sie tatsächlich 16 werden, sind ihre Karrieren oft schon wieder vorbei. Kletterinnen wechseln als Erwachsene oft von den Wettkämpfen zum Abenteuer – dahin, wo der Sport herkommt. Bigwall-Klettern mit Übernachtungen in Hängezelten an Hunderte Meter hohen Steilwänden, Eisklettern, Erschließen neuer Routen, Bergsteigen – von der Zivilisation in die raue Natur.

 

So wie Sasha DiGiulian, mehrfache US-Meisterin im Klettern und Gesamtweltmeisterin 2011, mit blonden langen Haaren und meist pink lackierten Fingernägeln ein All-American Girl. „Wir müssen Geschmeidigkeit durch Stärke ersetzen“, sagt sie.

DiGiulian kam erst im späten Teenageralter in die Pubertät, nahm fünf Kilogramm zu, als sie zu studieren begann, und hadert bis heute mit ihrer neuen Körperform. „Als eine kletternde Frau lebe ich in zwei Welten: Die eine ist definiert durch Stärke und Mut, die andere durch Schönheit und traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit. Das ist etwas, womit ich immer noch zu kämpfen habe.“

 

Johanna Ernst stieg mit 20 Jahren aus, vor fünf Jahren. Sie drückt es vorsichtig aus und sagt: „Es war die Luft raus.“ Die Diagnose dazu wäre Übertrainingssyndrom, Burn-out. Offiziell machte sie eine Auszeit, „aber für mich war klar, dass die Auszeit für immer sein wird.“ Sie fiel in ein Loch. Sogar im Schlaf hatte sie Schmerzen, das Klettern hatte die Muskeln im Oberkörper verkürzt und die Schultern nach vorn klappen lassen. Die schrumpfende Rückenmuskulatur konnte die Schulterblätter nicht mehr halten. Sie machte Psycho- und Physiotherapien. Ironischerweise empfahl ihr eine Therapeutin das Klettern gegen die Schmerzen. Das macht sie jetzt nur noch zum Spaß, ihr Freund hat eine Kletterhalle, sie arbeitet dort am Tresen, macht die Halle sauber, kassiert den Eintritt. Vor einer Weile begann sie, ein zehnjähriges Mädchen zu trainieren. Auch bei ihr ist der Vater die treibende Kraft, auch sie ist extrem klein. Für Johanna ist es ein wenig, als schaute sie sich selbst in ihrer Kindheit zu.

Dummy 2018

FOTOS Claudia Ziegler

 

Die Fotos stammen aus dem Buch The Young Savages, einem Bildband über die Kletterelite von morgen