Vor 75 Jahren starben im Zweiten Weltkrieg mehr als 55 Millionen Menschen. Viele der Überlebenden quälen sich ihr Leben lang mit schrecklichen Erinnerungen. Der Krieg wird sie überdauern, denn sie haben ihr Trauma an ihre Kinder und Enkel vererbt. Ich begab mich mit meinem Großvater auf Spurensuche
Frankreich, das ist für meinen Opa ein besonderes Land. Er spielt meisterhaft Boule, kann französische Gassenhauer auswendig und spricht die Sprache fließend, wenn gewünscht mit provenzalischem Dialekt. Als wir Französisch in der Schule lernten, liebte er es, uns in kleine Gespräche zu verwickeln. Ich hatte schon beim „Ça va?“ Angst, nicht richtig antworten zu können. Auf Familientreffen fällt immer irgendwann ein Name: Madame. Streng genommen ist das natürlich kein Name, aber wir wissen alle, wer gemeint ist. „Ich weiß, dass ich euch die Geschichte schon erzählt habe, ich erzähle sie trotzdem noch mal“, sagt mein Opa dann manchmal. Wir müssen alle schmunzeln und lauschen seinen Erinnerugen an seine Zeit als Dienstjunge bei Madame und Monsieur Scelle. Sie klingen schön und aufregend, nie nach Krieg, obwohl es der Krieg war, der meinen Opa nach Frankreich führte.
Vor 75 Jahren löste das Deutsche Reich mit seinem Einmarsch in Polen den Zweiten Weltkrieg aus, da war mein Opa 13 Jahre alt. Er wuchs mit acht Geschwistern als zweitjüngster Sohn eines Eisenbahnbeamten auf, drei weitere Kinder waren schon als Babys gestorben. Die Eltern standen weder hinter dem „Führer“ noch hinter seinen Kriegsgelüsten und erzogen ihre Kinder streng religiös.
Was ich nur aus den Geschichtsbüchern kenne, beendete die Kindheit meines Opas: Hakenkreuz, Fliegeralarm, der Dienst an der Waffe, der Anblick des Todes, Kriegsgefangenschaft. Unzählige Menschen hat das traumatisiert, besonders die Jüngsten. Was sie nicht aufarbeiten konnten, gaben sie an ihre Kinder und Kindeskinder weiter. Wenn mein Opa mir heute mit 88 Jahren auf dem Sofa gegenüber sitzt und sich an seine Jugend vor über siebzig Jahren erinnert, dann sagt er immer wieder den gleichen Satz: „Das war eben Krieg.“ Was ihm alles sagt, erklärt mir nichts. Was war Krieg?
Wir hatten zu Hause einen kleinen Volksempfänger. Darin sprach fast täglich entweder Hitler oder einer seiner Minister. Als Hitler seinem Wahlspruch „Ich habe keine territorialen Ansprüche in Europa“ völlig widersprochen und Österreich, die Tschechei und Polen schon „heimgeführt“ und erobert hatte, staunten wir, dass er 1942 plötzlich Russland den Krieg erklärte, und das im Winter. Als mein Vater das im Radio hörte, hat er nur gesagt: „Jetzt geht’s ihm wie Napoleon.“ Der ging an dem Fluss Beresina kaputt, da kamen die Leute nicht mehr zurück. Bei uns war es Stalingrad. Das haben wir zu Hause alles mitbekommen. Und obwohl Minister Göring versprochen hatte, es würde keinem feindlichen Flugzeug gelingen, die deutschen Grenzen zu überwinden, kamen jeden Abend die Flugzeuge geflogen und schmissen ihre Bomben ab, und als...
Er atmet durch, mein Opa, der in Zeiten des Überflusses immer mal wieder Lebensmittel hortet, als gäbe es vielleicht schon morgen nichts mehr zu kaufen. Seinen unvollendeten Satz denke ich weiter, denke, er mündet in etwas Schrecklichem. Ich weiß, dass er so etwas gesehen hat, das hat er mir vor kurzem am Esszimmerfenster mit Blick über seinen Heimatort Hemer erzählt. Etwa die Karren voller toter russischer Soldaten, die sie aus dem Kriegsgefangenenlager im Ort brachten, um sie in der Umgebung zu verscharren.
Einige Kinder und Enkel von Kriegsveteranen haben das so gemacht, haben die Geschichten weitergedacht, wenn sie abbrachen. Manchmal haben die Eltern gar nichts vom Krieg erzählt, vielleicht weil sie nicht konnten oder nicht wollten, vielleicht auch, um ihre Kinder zu schützen. „Kinder holen manchmal in ihrer Fantasie nach, was die Eltern ausblenden“, sagt Philipp von Issendorff. Der Facharzt für Psychosomatik arbeitet im Hamburger Fachzentrum für Stressmedizin. Das Nacherleben, erklärt er, ist einer der Wege, wie sich ein Trauma der Eltern auf ihre Kinder übertragen kann. Das Schweigen der Eltern erzeugt Ahnungen, die wie eigene Erfahrungen wirken. Von Issendorff hat das anhand des Hamburger Feuersturms von 1943 untersucht. Unter dem Namen „Operation Gomorrha“ töteten Bomben der britischen Royal Airforce innerhalb weniger Tage zehntausende Menschen. In einer Studie mit 46 Zeitzeugen und ihren 76 Kindern fand von Issendorff heraus, dass viele Überlebende ihre seelischen Verletzungen an ihre nach dem Krieg geborenen Kinder weitergegeben hatten. Die Kinder der Zeitzeugen leiden weit häufiger als die Normalbevölkerung unter Angst, Depressionen oder somatischen Beschwerden. Je schwerer die Traumatisierung der Eltern, desto größer die Angst bei den Kindern – auch Jahrzehnte später.
„Die Mutter einer meiner Patientinnen ist im Alter von zwanzig Jahren aus Ostpreußen geflohen, der Vater war in russischer Kriegsgefangenschaft. Sie hat materiell alles von ihren Eltern bekommen“, erzählt von Issendorff. „Wenn sie unglücklich war, haben sie gesagt: ‚Wieso, du hast doch alles.‘ Was ihr fehlte, waren Liebe und Zuneigung.“ Emotionale Kälte. Viele Deutsche stellten das eigene Leid unter das der grausam verfolgten Juden, der elendig zugrunde gegangenen Kriegsgefangenen, der brutal ihrer Heimat beraubten „Feinde“. Denen ging es doch allen schlechter, hatte man da ein Recht zu trauern? Millionen Menschen bewältigten nie ihre Vergangenheit, ihre Kinder wuchsen unter bleiernem Schweigen auf. Andere erzählten, gezeichnet vom Schrecken, die immergleichen Horrorgeschichten. „Ein Proband unserer Studie hatte den Feuersturm mit vier Jahren erlebt“, berichtet von Issendorff. Er schärfte seiner Tochter die Angst vor Feuer derart ein, dass sie später Ängste und Albträume hatte. Sie war traumatisiert von Erfahrungen, die sie nie selbst gemacht hatte.
Die Kriegsjahre waren nicht die lustigsten. Jeden Abend war Fliegeralarm, jeden Abend mussten wir in den Luftschutzkeller und jeden Abend wurden entweder im Ruhrgebiet oder sonst irgendwo Bomben abgeworfen. Da denkst du nur, du musst hier heile wieder rauskommen. Man wird schon ein bisschen gleichgültig, wenn das jeden Tag nach dem gleichen Muster abläuft. Aber normal wurde es insofern nicht, als dass es mit zunehmendem Krieg auch immer weniger zu essen gab. Das merkten wir zu Hause nicht so sehr, weil wir etwas Landwirtschaft hatten. Schweine, zwei Ziegen, Kaninchen und Hühner. Als meine Brüder eingezogen wurden, musste ich das Zicklein schlachten, mit dem ich am liebsten gespielt hatte.
Für die Front war mein Opa eigentlich zu jung, aber mit 17 Jahren wurde er zum Arbeitsdienst eingezogen – Gräben ziehen, Rohre und Leitungen verlegen. Schon nach vier Wochen nahm man ihm den Spaten weg und drückte ihm ein Gewehr in die Hand. Deutschland brauchte Soldaten. Er wurde zur Flak, Fliegerabwehrkanone, nach Marseille geschickt.
An Heiligabend 1943 ertönte Fliegeralarm. Da hieß es: Ein Flugzeug mit langsamem Tempo und niedriger Höhe fliegt an uns vorbei, das knallen wir ganz schnell ab. Ich war an dem Gerät, an dem die Höhe, Schnelligkeit und Entfernung gemessen und an die Kanonen weitergegeben wurde. Da habe ich mir gesagt: Heute ist Heiligabend, und da in dem Flugzeug sitzen Jungs, die sind so alt wie du, nur aus einem anderen Land. Und die sollst du heute Abend abknallen? Das mach ich nicht. Das durfte ich niemandem sagen, dann wäre ich an die Wand gekommen. Also habe ich die Daten zu langsam weitergegeben, nicht falsch, dann wäre ich aufgefallen. Wir haben den Flieger nicht abgeschossen. Hätten die das gewusst, dann hätten die mich erschießen müssen.
Wir lagen bei Marseille in L’Estaque an einem Hang. Eines Tages kam aus einem Nachbarhaus ein Schuss und traf einen von uns ins Bein. Das hat unser leitender Offizier als Angriff angesehen, hat sich an die Kanone gestellt, das Rohr auf das Haus zielen lassen, eine Panzergranate reingetan und bums, war das Haus weg. Da erkannte ich: Der Stärkere kann Krieg machen. Aber das darf dich eben nicht so schockieren, dass du danach nicht mehr weiterleben könntest, so darf es dich nicht zurückwerfen.
Man musste stark sein, durchkommen, nach Kriegsende anpacken, aufbauen, arbeiten, Kinder kriegen, sich Wohlstand erarbeiten. „Nach dem Ende des Arbeitslebens stürzt bei vielen die Abwehr ein“, sagt der Psychosomatiker von Issendorff. Wie viele der knapp 14,4 Millionen bis 1945 Geborenen, die heute noch leben, ein Kriegstrauma davongetragen und möglicherweise an ihre Kinder weitergegeben haben, weiß niemand. „Das wurde in Deutschland leider nicht umfangreich erforscht“, sagt die französische Hirnforscherin Isabelle Mansuy. Sie ist Professorin am Institut für Hirnforschung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Dort beschäftigt sich die Neuroepigenetikerin mit der biologischen Weitergabe von Traumata.
Der Körper kann sich einschneidende Erlebnisse merken, seinen Umgang mit solchen Situationen dauerhaft verändern – und das sogar über Generationen weitergeben. Genauer: Ein traumatisches Erlebnis kann die Sequenz der Gene nicht verändern, aber sie an- oder abschalten. Im Fokus der Forschung steht das FKBP5-Gen, das die Stoffwechselreaktion einer Zelle auf Stresssignale steuert. Normalerweise verhindern Methylgruppen die Aktivierung eines Gens. An der Stelle im Erbgut, an der das FKBP5-Gen sitzt, bauen sie sich durch ein Trauma offenbar ab. „Entscheidend für die Vererbung ist, ob das auch in den Keimzellen passiert oder nicht“, erklärt Mansuy. Erst durch das Sperma oder die Eizelle wird eine Transformation weitergegeben.
Das ist evolutionsbiologisch sinnvoll: Eine erhöhte Stressreaktion, also stärkere Erregbarkeit oder Aggressivität, kann im Ernstfall lebensrettend sein. Diese Erfahrung soll auch den Nachwuchs schützen. Doch nicht jeder Mensch reagiert gleich: Von dem FKBP5-Gen gibt es zwei Typen, wer die Risikovariante trägt, reagiert stärker auf traumatische Ereignisse. Umgekehrt ist er aber auch besonders empfänglich für positive Bestärkung. Stabile Familienbande, liebevolle Beziehungen und tiefe Freundschaften können ein Trauma lindern, vielleicht sogar verhindern oder heilen.
Besonders Kinder sind anfällig für ein Trauma. „Die Zellen eines Kindes sind flexibler, ihre epigenetischen Markierungen befinden sich noch im Aufbau“, sagt die Hirnforscherin. Es haben also gerade diejenigen psychische Wunden davongetragen, die den Krieg als Kind erlebt haben. Erst jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, beschäftigt sich die Forschung mit den Kriegskindern und deren Nachfahren, die im Schatten ihrer unmittelbar betroffenen Eltern und Großeltern vernachlässigt wurden. 2007 gründete sich der Verein Kriegsenkel, in dem die Nachkommen ihre Geschichte aufarbeiten.
Am 28. August 1944 wurde meine Flakdienstzeit durch die Landung der Amerikaner in Gefangenschaft umgewandelt. Gefangenennummer 315059. Da kamen plötzlich autoweise die Amerikaner bei uns ins Lager gefahren. Wir mussten sofort unsere Waffen abgeben. Da bist du hilflos. Im Lager haben sie uns behandelt, wie man Gefangene eben behandelt. Sie mussten uns zu essen geben und wir mussten die Gosch halten. Erst mal haben sie uns die Haare abgeschnitten. In unseren Augen war es eine große Demütigung, dass die Franzosen uns eine Glatze schneiden durften. Am Anfang hat man nur gedacht: Es muss irgendwie weitergehen. Als der Krieg noch nicht zu Ende war, gab es mittags auch mal keine Suppe, weil die Franzosen selber nichts hatten. Da haben wir nur einen Keks bekommen, das musste für den Tag reichen. Manchmal hat man uns eine Suppe aus Artischockenblättern gekocht. Die war beinahe nicht zu genießen, aber aus Hunger hat man sie gegessen.
Er seufzt, lässt den Blick über die Fensterbänke voller Blumen und Kakteen wandern. Das Erinnern strengt ihn an. Er musste Hunger, Ungewissheit und Erniedrigung aushalten, in einem Alter, in dem meine Sorgen sich um langweilige Unterrichtsstunden und schlechte Partys drehten. Wie viel von ihm steckt in mir? Wie viel Krieg steckt in mir?
Mein Opa hatte Glück. Mit der Hilfe eines Freundes im Lager bekam er eine Anstellung bei einem ehemaligen französischen Marineoffizier am Rande von Marseille. Das Gesuch: ein junger Mann für Haus und Garten mit Französischkenntnissen. Als der Hausherr ihn nach seinem Alter fragte, nannte mein Opa seinen Namen. Er durfte trotzdem bleiben, bei Madame und Monsieur, und als er 1948 aus der Gefangenschaft entlassen wurde, da wollten sie ihn kaum gehen lassen. Zurück in Deutschland schrieb er sich Briefe mit Madame, besuchte sie oft, sogar die Hochzeitsreise mit meiner Oma machte er dorthin. Jahrzehnte später besuchten wir mit der ganzen Familie – Töchter, Schwiegersöhne und Enkel – das Grab von Rosette und Robert Scelle, die für uns alle „Opas Madame und Monsieur“ sind.
Experten wie Philipp von Issendorff raten dazu, mit den Zeitzeugen über den Krieg zu reden, solange es noch geht. „Wenn die Schrecken des Krieges vergessen sind, zettelt man so etwas schneller wieder an“, mahnt er. „Wenn ich mir die heutigen Konflikte ansehe, dann macht mir das Sorgen. Da werden Menschen schwer traumatisiert, die haben Kinder und die haben wieder Kinder.“ Darüber zu reden, kann heilsam sein, denn der Krieg zerbricht Menschen und macht sie über Generationen hinweg hart gegen sich und damit auch hart gegen andere. C’est la guerre, das ist der Krieg.