Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

 

Kriegsflucht, Kriminalität, Knast. Als Hamid Rahimi nicht mehr weiter abrutschen kann, besinnt er sich auf sein Talent, das Kämpfen. Als Boxer will er nun seinem Heimatland Afghanistan helfen


Die dunkelsten Stunden sind die ohne Hoffnung. Das weiß, wer den Krieg erlebt hat, die Illegalität, das Gefängnis. Der fast getötet wurde, fast getötet hat, beinahe sogar sich selbst. Hamid Rahimi ist so ein Mensch, der sein Leben anhand seiner Narben erzählen kann. Anhand der Stichwunde im Bauch, des Einschusslochs im Fuß, der kaputten Nase. Er zeigt sie so unbeschwert wie andere Leute eine alte Tätowierung. Beweise für ein Leben, das man ihm kaum glauben kann.

 

Heute ist der Boxer aus Hamburg ein Held in Afghanistan, endlich einer ohne Gewehr. Männer mit Waffen sind sonst die Leitbilder für eine Jugend, die zu schnell erwachsen wird. Hamid Rahimi will das Vorbild mit dem Boxgürtel sein. Er hat den ersten afghanischen Boxverband gegründet und knapp 50 Gyms bei der Gründung geholfen – auch welchen für Mädchen. Dafür wurden er und die jungen Frauen von Unbekannten mit Säureangriffen bedroht, aber er lässt sich nicht bremsen, jetzt nicht mehr.


Lange war er einfach nur Hamid Rahimi, der Boxer. Nicht besonders berühmt, Mittelgewichtsklasse, Kampfname The Dragon. Vor sieben Jahren steht sein Name plötzlich auf den Titelseiten. Er soll mit Kokain gedealt haben, landet für fünf Monate in Hamburg in Untersuchungshaft – unschuldig, wie sich später herausstellt, wegen eines Übersetzungsfehlers. Der NDR Sportclub dreht einen Beitrag über ihn, unterlegt mit dramatischer Musik. Moderator Peter Carstens kündigt seine Geschichte als unglaublich an, im  Studiogespräch fragt er lapidar: „Ist irgendwas hängen geblieben, irgendwas Böses, irgendwelche Erinnerungen, irgendwelche Traumata?“ Die Frage musste zynisch wirken auf einen, der als traumatisiertes Kriegskind nach Deutschland flüchtete, dessen Jugend man, vorsichtig ausgedrückt, mit „auf die schiefe Bahn geraten“ beschreiben würde und die wegen eines Verbrechens im Gefängnis endete. Doch all das machte Rahimi erst im vergangenen Herbst mit seinem Buch „Die Geschichte eines Kämpfers“ im Osburg Verlag öffentlich.


Kabul 1992, ein unerträglich heißer Tag im Sommer. Die Sowjetunion hat sich aus Afghanistan zurückgezogen. Zehn Jahre lang hatte die Besatzungsmacht das Land mit einem Stellvertreterkrieg gegen die von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan unterstützten Mudschaheddin überzogen. Der Islamische Staat Afghanistan wird ausgerufen, die Hoffnung auf Frieden stirbt im Machtgerangel verfeindeter Mudschaheddingruppen. Kabul wird zum Zentrum eines grausamen Bürgerkriegs. Hamid Rahimis Kindheit ist geprägt von bittersüßen Granatäpfeln, Badeseen und Bombenanschlägen. Wenn die Erde wackelt und die Luft vibriert, flüchten er und seine drei älteren Geschwister, seine Eltern und sein Onkel in das geflieste Bad. Und dann kommt der unerträglich heiße Tag, der Tag, an dem für den neunjährigen Hamid die Welt zusammenbricht.


An einer Eisdiele trifft er seinen besten Freund Khalil. Dem fällt auf dem Weg nach Hause das Eis aus der Hand, er muss umkehren, sich ein neues kaufen. „Die folgenden Jahre verbrachte ich viel Zeit damit, darüber nachzudenken, wie unser beider Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich mein Eis mit ihm geteilt hätte“, schreibt Rahimi. Eine Bombe explodiert. „Mütter schrien und suchten nach ihren Kindern. Kinder weinten und suchten nach ihren Müttern. Weinende Kinder. Schreiende Mütter. Zerrissene Kinder. Tote Mütter. Kinderblut – überall.“ Ein Bombensplitter hat sich in Khalils Herz gebohrt. „Khalil hörte auf zu atmen, und meine Welt hörte auf, sich zu drehen.“ Und Hamid Rahimi hörte auf zu sprechen.


Die Krankenhäuser sind voll mit Menschen ohne Arme, ohne Beine, für ein Kind ohne Stimme hat niemand Zeit. Er bleibt stumm. Zwei Jahre später flüchtet die Familie Rahimi nach Hamburg, erst in Deutschland fängt Hamid stotternd wieder an zu reden. Lange hat er ein Kinderfoto von sich und seinem besten Freund aufgehoben, inzwischen weiß er nicht mehr, wo es ist. Er hat viel über die Vergangenheit gesprochen, verwendet die immergleichen Formulierungen. Es ist, als würde er die Geschichte eines anderen erzählen, als könnte er das Buch zuklappen, jetzt, da es geschrieben ist.


Hamid Rahimi sitzt an dem weißen Lacktisch in seiner Wohnung im Hamburger Stadtteil Hohenfelde, weiße Ledersessel, weiße Ledercouch, an der Wand ein großer Flachbildfernseher. Um seine Beine wuselt aufgekratzt die breitschnäuzige Hündin Frau Tyson, „auch ein Boxer“, sagt er grinsend. Im Flur hängen Fotos aus Afghanistan, von der Familie, von Kabul – und von seiner Rückkehr. Auf seinem Laptop zeigt er Videos von Menschenmengen auf den Straßen, von Jugendlichen, die sich um ihn scharen, Autogramme wollen von ihrem Boxhelden. „Ich bin da so wie Michael Jackson“, kommentiert der 30-Jährige. „Und guck, keine Bombenanschläge.“ Das ist seine neue Mission, keine Bomben mehr, kein Krieg mehr. Erreichen will er das auf etwas unkonventionelle Weise, mit dem, worin er gut ist: Boxen. Zunächst vielleicht nur für die Länge eines Kampfes.


Boxen ist kein friedfertiger Sport. Das Ziel ist der körperliche Sieg über den Gegner, bis er umfällt oder aufgibt, bis der Trainer das Handtuch wirft oder die Punktrichter entscheiden. Hamid Rahimi wurde die Nase schon so oft gebrochen, dass er aufgehört hat zu zählen. Dennoch ist er nicht der Einzige, der im Boxsport etwas Friedensstiftendes sieht. „Rang, Alter oder Hautfarbe spielen im Ring keine Rolle“, schrieb der Ende letzten Jahres verstorbene Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela, der früher selbst geboxt hat, in seiner Autobiografie „Der lange Weg zur Freiheit“. Bei der ersten Preisverleihung von Laureus, einer Stiftung zur Förderung sozialer Sportprojekte, sagte Mandela im Jahr 2000: „Sport hat die Kraft, die Welt zu verändern. Er hat die Kraft, zu inspirieren. Er hat die Kraft, Menschen zu vereinen, wie es sonst nur weniges kann. Sport kann Hoffnung erwecken, wo vorher nur Verzweiflung war.“


Hamid Rahimi glaubt daran. Im Oktober 2012 will er das allen beweisen. Er organisiert den ersten professionellen Boxkampf in Afghanistan im Saal der Loya Jirga, der Großen Ratsversammlung in Kabul. Er trifft sich mit  Regierungsvertretern, Warlords, begeistert die World Boxing Organisation (WBO) von seiner Idee. Es soll um den WBO-Interkontinental-Titel gehen, der Sieger hat die Chance, um die Weltmeisterschaft zu kämpfen. Kurz vor dem Kampf sagen sein Gegner und der Ringrichter aus Angst vor einem Anschlag ab, der tansanische Mittelgewichtsboxer Said Mbelwa springt spontan ein. Zwei Fernsehsender übertragen den Kampf live. „Es gab währenddessen keinen Anschlag, keine Gewalt, noch nicht mal einen Verkehrsunfall. Das ganze Land hat mir zugesehen“, erzählt Hamid. Als er in der siebten Runde durch technischen K.o. gewinnt, stürmen seine Landsleute den Ring. Nach dem Kampf hängen Poster von ihm in den Kaufhäusern, Kinder tragen T-Shirts mit seinem Konterfei, schon im Voraus hatte Präsident Hamid Karzai ihm den höchsten Staatsorden verliehen.


Der Boxer will das Versprechen einlösen, seinem Heimatland ein Held zu sein. Seit seiner Flucht hat sich wenig geändert, Afghanistan bleibt gefährlich, besonders für Leute, die polarisieren. Zu einem gemeinsamen Treffen erschien der deutsche Botschafter im Panzerwagen mit Bodyguards, Pistolen und kugelsicheren Westen, Rahimi läuft ungeschützt auf den Straßen herum. Er macht alles zugleich, startet eine Kampagne gegen die Verschmutzung von Kabuls Straßen, teilt Winterjacken an die Müllmänner aus, trifft sich mit der Menschenrechtlerin Sima Samar, Trägerin des Alternativen Nobelpreises. Nebenbei gründet er eine Firma für Energydrinks und spendiert einer Mädchenschule einen Volleyballplatz. „Mir wurde sogar vorgeschlagen, Vizepräsident zu werden“, erzählt Rahimi. Von wem, will er nicht sagen. Er lehnte ab. Ebenso wie das Vorwort vom Präsidenten, das der ihm für sein Buch angeboten haben soll, „das ist so ein Typ, der dreht sich mit dem Wind“.


Und immer wieder steigt er in den Ring. Der Sieg in Kabul katapultierte ihn, den Drachen, auf der WBO-Weltrangliste auf Platz sieben, jetzt will er nach ganz oben. Jeden Tag trainiert er zweimal. Das Gym im Hamburger Stadtteil Wandsbek liegt versteckt in einem Hinterhof, der Trainingsraum wirkt heruntergekommen und spröde. Die Deckenplatten haben Löcher, an ihnen hängen grelle Neonröhren, die Heizungen an den Wänden rosten. Im Dreiminutentakt einer Boxrunde drischt Hamid Rahimi auf einen schweren schwarzen Boxsack ein, seine Schläge hinterlassen tiefe Dellen. „Und jetzt knallen, Hamid!“, brüllt sein Trainer. „Jetzt muss es dir wehtun, hier, damit du es im Ring leichter hast!“ Die Oberarme werden rot und glänzen schweißnass, in den Pausen lässt er sich auf den Boden fallen. Als er wieder aufsteht, schlägt er sich mit dem Boxhandschuh ins Gesicht. Wenn er nicht mehr kann, geben ihm die Erinnerungen Kraft, erzählt er. Daran, wie er nie wieder sein will, wo er nie wieder hin möchte.


Der Neuanfang 1994 in Deutschland war hart für die afghanische Flüchtlingsfamilie. Sie sind Illegale, drängen sich zu sechst in eine heruntergekommene Einzimmerwohnung in einem kaputten Hamburger Stadtteil. Die Mutter und der Vater, in Afghanistan gut situiert als Vizeschulleiterin und Ingenieur, müssen putzen und anderer Leute Gepäck tragen. Der jüngste Sohn Hamid rutscht ab, trifft die falschen Freunde und beginnt, als Schutzgeldeintreiber zu arbeiten. Prügeln, bis seine Fäuste rot vom Blut des anderen sind, Koksen, bis es ihm egal ist. Dicke Autos, leichte Mädchen, Drogen und Geld sind sein Leben. Bei einem Job schießt er sich versehentlich in den Fuß, er kokst es weg. Auf einem nächtlichen Drogentrip sticht er sich mit einem Messer in den Bauch, weil er glaubt, unverwundbar zu sein. Er kokst es weg. Dann wird seine Freundin vor seinen Augen in der gemeinsamen Wohnung von Vermummten vergewaltigt. Sein bester Freund behauptet zu wissen, wer es war, Hamid schießt dreimal auf den vermeintlichen Täter. Als er später erfährt, dass sein Opfer schwer verletzt überlebt hat, hat er bereits versucht, sich selbst umzubringen. Denn er hat auf den Falschen geschossen. Seine Freundin hat den besten Freund unter der Strumpfmaske erkannt. Rahimi überlebt seinen Selbstmordversuch aufgrund eines Ladefehlers.


Es folgen die Jugendstrafanstalt Hahnöfersand, kalter Entzug, einige seiner dunkelsten Stunden. Im Fernsehen sieht er Dariusz Michalczewski boxen, den Tiger, und da weiß er, wohin mit sich selbst. Mit 23 Jahren bestreitet er seinen ersten Amateurkampf. Mittlerweile hat er 23 Profikämpfe hinter sich, 22 gewonnen, zehn davon durch Knockouts.


Eine Geschichte wie die seine ist im Boxsport nichts Ungewöhnliches. „Das Einwanderungsgemisch der untersten sozialen Stufe hat nichts zu verlieren“, schreibt der deutsche Schriftsteller und Boxliebhaber Wolf Wondratschek. „Gerade deshalb sind diese Jugendlichen anfällig für den radikalen Gedanken, als Berufsboxer anzutreten.“ Der frühere amerikanische Schwergewichtsweltmeister Mike Tyson kommt aus den Slums von Brooklyn, das Boxen bezeichnet er als seine Rettung. Der deutsche Halbschwergewichtler Jürgen Brähmer wird wegen mehrerer Haftstrafen auch „der Knastboxer“ genannt. Dariusz Michalczewski floh aus Polen, Felix Sturm ist der Sohn bosnischer Gastarbeiter, Muhammad Ali stammt aus armen Verhältnissen. Er ist eines von Rahimis größten Vorbildern, nicht nur wegen seines unverwechselbaren Boxstils, sondern auch wegen dem, was er 1967 getan hat. Ali verweigerte den Kriegsdienst in Vietnam und nahm dafür auf dem Höhepunkt seiner Karriere den Verlust seines WM-Titels und ein Boxverbot in Kauf.

 

Im März kämpft Hamid Rahimi erneut in Kabul, um seinen Landsleuten Hoffnung zu geben für die Präsidentschaftswahl im April. Und irgendwann will er im Bamiyan-Tal boxen, wo die Taliban 2001 die weltberühmten Buddha-Statuen sprengten. Es soll ein großes Ding werden mit zehntausenden Zuschauern. Boxmanager-Legende Don King soll ihm dafür zugesagt haben. „Das wird eine dicke Ohrfeige für die Taliban“, sagt Rahimi. Jetzt, da er im Kampf gegen sich selbst gesiegt hat, will er den Kampf Afghanistans kämpfen, eines Landes, das sich an den Frieden nicht mehr erinnern kann. Er hat keine Angst, er fühlt sich unverwundbar.


//Mission gescheitert?

Die 2001 gestartete ISAF-Mission (International Security Assistance Force) sollte die afghanische Regierung bei der Schaffung stabiler demokratischer Strukturen unterstützen – notfalls mit Waffengewalt. 50 Staaten beteiligten sich mit etwa 100.000 Soldaten. Die Bundeswehr stellte das drittgrößte Kontingent (4400 Soldaten) nach den USA (60.000) und Großbritannien (7700). Der bis Ende 2014 geplante Truppenabzug hat bereits begonnen. Zwar sollen 8000 bis 12.000 Soldaten im Rahmen der Mission „Resolute Support“ bleiben. Voraussetzung ist jedoch die Unterzeichnung eines bilateralen Abkommens mit den USA, die der scheidende afghanische Präsident Hamid Karzai bislang verweigert. Im Falle eines Totalabzugs und eines Scheiterns der Präsidentschaftswahl am 5. April könnte in dem ohnehin instabilen Land Chaos ausbrechen. Zugesagte Finanzhilfen würden vermutlich gestrichen. Bis Mitte Januar 2014 verloren in Afghanistan 3414 ISAF-Soldaten ihr Leben. Zu den weit höheren afghanischen Verlusten gibt es keine verlässlichen Zahlen.

greenpeace magazin 2014