Land unter

 

Das Meer wächst. Auch vor der deutschen Küste macht es nicht halt. In der Nordsee liegen zehn kleine Halligen nur knapp über dem Meeresspiegel. Sie sind weltweit einzigartig. Bis Ende des Jahrhunderts könnten die Nachkommen der rund 270 Bewohner den Wettlauf gegen das Wasser verlieren


Man muss die Einsamkeit mögen, um auf einer Hallig wie Nordstrandischmoor leben zu können. Nur die Zäune ragen aus den kleinen sich kräuselnden Wellen, wie die Überreste einer längst untergegangenen Siedlung. Sie teilen nicht mehr die Weideflächen ein, sondern das Meer. Über Nacht hat es beinahe die ganze Hallig verschluckt – die Straßen, die Wiesen, den kleinen Schulspielplatz. Wie winzige Inseln stechen fünf Häuser aus dem Wasser hervor. Sie stehen auf kleinen Hügeln, Warften genannt. Bei „Land unter“ sind sie die einzige Zuflucht für Mensch und Tier. Die 21 Bewohner sind auf ihnen gefangen, bis das Meer sie wieder entlässt. Vielleicht wird es das eines Tages nicht mehr tun. Dann würden die Halligbewohner zu Klimaflüchtlingen.


Solche Überflutungen, „Land unter“ genannt, erfassen die zehn Halligen im norddeutschen Wattenmeer bis zu 30-mal im Jahr. Sie machen sie erst zu dem, was sie sind. Denn prägend für eine Hallig ist, dass sie keinen Deich hat. Ohne Sturmflut keine Hallig. Was jeden Festländer in Panik versetzt, betrachten Halligbewohner mit Pragmatismus: „Ich beschließe jetzt einfach: Heute Abend kommt kein neues Wasser mehr. Morgen habe ich nämlich keine Zeit zum Aufräumen“, sagt Ruth Kruse. Rotwangig und mit flotten Sprüchen auf der Lippe sprüht sie ihre Hausauffahrt mit einem Wasserschlauch sauber. Ihre beiden Hunde rasen über den Hof, die Kinder spielen im Dreck und gehen ihrer Mutter in feinstem Plattdeutsch auf die Nerven. Die Schafe haben hier 24 Stunden dicht an dicht gestanden, weil es der einzige Ort ist, wo das Wasser nicht hinkam.


Die kleinen Halligen sind UNESCO-Weltnaturerbe, Nationalpark, Biosphärenreservat und weltweit einzigartig. Die Luft riecht nach Salz, durch die alles verschluckende Stille dringt dann und wann das Schnattern der Ringelgänse, die hier auf ihrer Reise gen Süden rasten. Doch droht die Idylle für immer unterzugehen. Denn der Meeresspiegel steigt, in der Nordsee sogar schneller als anderswo. Weltweit wird der Pegel bis Ende des Jahrhunderts nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen um bis zu eineinhalb Meter zugenommen haben. Der UN-Klimarat prognostiziert der Nordseeküste durch die Abschwächung des Nordatlantikstroms zusätzlich ein Plus von zehn bis 15 Zentimetern. Hinzu kommt ein Erbe der letzten Eiszeit: Weil die Gletscher über Skandinavien abgeschmolzen sind, hebt sich das Land dort, von seiner Last befreit, seitdem nach oben. Wie auf einer Wippe senkt sich das Land an der Nordseeküste ausgleichend ab, bis 2100 um zehn bis zwanzig Zentimeter. Zusammen ergibt das für die Halligen sehr viel Wasser in sehr kurzer Zeit.


Von der Halligkante weht dröhnendes Knattern zum Haus: Die Küstenschützer arbeiten wieder. Das Wasser hat sich weit zurückgezogen. Wo es gestern noch über einen Meter hoch stand, liegt jetzt endlos weites Watt. Darin stapfen fünf Männer in hüfthohen Gummistiefeln und rammen Holzpflöcke mit einer Motorramme in den Boden. Sie erhöhen damit eine 20 Jahre alte Lahnung, das Meer hat das alte Holz morsch gemacht. Zwischen die parallel stehenden Holzpflockreihen binden die Männer Reisig. Fließt das Wasser bei Flut in ein von Lahnungen abgeteiltes Feld, dann kommt es dort zur Ruhe und Schwebstoffe setzen sich ab. Passiert das oft genug, entsteht neues Land, das als Wellenbrecher für die Wiesen dahinter fungiert. Neben Steinwällen sichert das die Existenz der Halligen. Hätte man sie nicht befestigt, gäbe es sie heute vermutlich nicht mehr. Deswegen arbeitet jeder Mann auf Nordstrandischmoor im Küstenschutz. Immer wieder reißt der „Blanke Hans“ – so nennt man hier die Nordseesturmfluten – Löcher in die Halligkante und begräbt das Eiland unter sich. Die Männer kämpfen gegen ihn wie David gegen Goliath. Es ist die einzige Arbeitsmöglichkeit, abgesehen von der kleinen Schule, die gleichzeitig auch die Kirche ist. Dort unterrichtet ein Lehrer vier Kinder.


1962, 1976, 1999 – das sind die Marken, die jedem ins Gedächtnis gebrannt sind. Die Bewohner von Nordstrandischmoor haben einige starke Sturmfluten erlebt, bei denen das Wasser bis ans Haus peitschte, Fenster einschlug und Tapeten von den Wänden wusch. Kurz vor der Sturmflut ’62 waren die Häuser erneuert worden – in letzter Sekunde. Die Flut hätte sonst vermutlich alles mit sich gerissen. Jedes der fünf Häuser bekam einen Schutzraum im ersten Stock, der mit dicken Stahlträgern fest im Boden verankert ist. Benutzt hat ihn bisher nur eine Familie bei der Flut ’76: Ihr Haus war alt, das Wasser drückte die Mauern ein. Die Orkanflut ’99 löschte die unbewohnte dänische Hallig Jordsand von der Landkarte. Die anderen Halligen verdanken ihr Leben dem Küstenschutz, doch keiner weiß, wie lange noch. In den letzten Monaten ist es ungewöhnlich ruhig, im vergangenen Jahr gab es nur neun „Land unter“. Es fühlt sich an wie die Ruhe vor dem Sturm. Das Wasser wird steigen, die Überschwemmungen werden häufiger und die Stürme stärker. Daran lässt die Wissenschaft keinen Zweifel.


Doch Malte Schindler von der Universität Göttingen hat Hoffnung. Er untersucht das Phänomen der Sedimentation, das den Halligen das Leben retten könnte. Unter den misstrauischen Blicken von Schafen und Halligbewohnern hämmert er kleine Kunstrasenmatten und Plastikflaschen in den Boden. Jedes Mal, wenn das Meer den Boden überspült, setzen sich darauf Sedimente ab, schätzungsweise ein halber Millimeter bei jedem „Land unter“. Die Matten und Flaschen fangen sie auf und machen aus der Schätzung bald harte Zahlen. Zusätzlich hat Malte Schindler noch eine Handvoll High-Tech-Geräte installiert, die messen, wie, wo und wie viele Partikel im Wasser mitschwimmen. All diese Daten werden dann klären, wie schnell Nordstrandischmoor wächst und ob die Hallig mit dem steigenden Meeresspiegel mithalten kann. Die Ergebnisse fließen ein in die Forschungsarbeit „Zukunft Hallig“, an der sich neben den Göttingern auch Forscher aus Siegen und Aachen sowie Küstenschützer aus Schleswig-Holstein beteiligen. Gemeinsam wollen sie bis 2013 Strategien entwickeln, wie man die Halligen erhalten kann.


Der Forscher wohnt während seiner Arbeit bei Ruth Kruse. Bei ihr gibt es Braten von eigenen Lämmern und norddeutschen Schnack inklusive: „Oh Gott, ist das ein Schrott“, kommentiert sie zwar Maltes technisches Gerät, unterstützt ihn aber eigentlich gerne. Ihre 84-jährige Mutter Frieda findet die ganze Forschung überflüssig. Sie sitzt in ihrem kuscheligen Wohnzimmer – beige geblümte Sofagarnitur, hellblauer Teppichboden, Strickzeug in Greifnähe – auf ihrem Stammsessel am Fenster und beobachtet Malte draußen im Regen. „Nicht dass der mir jetzt die Warft aufbuddelt“, murmelt sie besorgt. „Man kann ja erforschen was man will, aber man kann’s auch übertreiben.“ Sie kennt die Hallig noch aus Tagen, als man die Salzwiesen mit der Sense mähte. Am linken Zeigefinger fehlt ihr das erste Glied, sie verlor es mit 15 beim Holzhacken. Es wurde zwar wieder angenäht und hätte vielleicht anwachsen können, aber die Heuernte stand bevor. Es blieb keine Zeit zum Schonen. Heute dagegen habe man ja allen Luxus. Es fällt ihr schwer zu verstehen, warum das Leben auf der Hallig nun auf einmal bedrohlicher sein sollte.


Malte beendet seine Installationen einen Tag später als geplant. Die Sturmflut hat ihn genauso gelähmt wie ganz Nordstrandischmoor. Zum Festland bringt ihn die klappernde und tuckernde Lore, ein kleines Schienenfahrzeug Marke Eigenbau. Mit dem 13 Stundenkilometer schnellen Gefährt transportieren die Bewohner alles: Gäste, Möbel, Schafe. Jetzt sind es Malte, Ruth und ein Haufen technisches Gerät. Die beiden schweigen. Ruth kommen heute keine flotten Sprüche über die Lippen. Draußen zieht die unfassbare Weite des Wattenmeers vorüber, die Lore ist darin nicht mehr als ein kleiner schleichender Punkt.

greenpeace magazin 2012

FOTOS Enver Hirsch