Das große Zittern

 

In Teilen Südeuropas stehen gewaltige Erdbeben und Vulkanausbrüche bevor. Millionen Menschenleben sind in Gefahr. Doch Experten haben alle Mühe, ihren Warnungen Gehör zu verschaffen


Der Erzbischof von Neapel steht vor der ungeduldigen Menschenmenge und dreht eine gläserne Ampulle in seinen Händen. Das heilige Blut muss flüssig werden, sonst beginnt das Inferno.

 

Am Strand von Lissabon baut ein Mann Figuren aus Sand. Wenn eine Welle kommt, werden sie sich in einzelne Körner auflösen. Wenn die große Welle kommt, wird die Stadt es ihnen gleichtun. 

 

Nahe Istanbul proben die Rettungsmannschaften den Ernstfall am Modell eines zusammengesackten Hauses. »Es ist wie damals«, raunt einer. »Nur der süßliche Geruch der Verwesung fehlt.« 

 

Die drei europäischen Metropolen Neapel, Lissabon und Istanbul eint das gleiche Schicksal: Sie werden ihre Bewohner zu Tausenden unter sich begraben und die Überlebenden in einen Horror stürzen. Für jede dieser Städte wird der Tag der Zerstörung kommen, nur vermag niemand zu sagen, wann. Denn während sich die Menschheit auf eine Expedition zum Mars vorbereitet, hat sie es noch nicht tiefer als zwölf Kilometer unter die Erdoberfläche geschafft. Und so können Wissenschaftler nur die Vorhersage geben, dass starke Erdbeben und Vulkanausbrüche die drei Städte verwüsten werden. Vielleicht werden die jetzigen Bewohner dann schon lange tot sein. Vielleicht trifft es sie auch schon morgen. 

 

Warum die Erde nicht so unverrückbar ist, wie wir es gern hätten, darüber wird seit Jahrtausenden spekuliert. Immanuel Kant verdächtigte, wie einige römische Gelehrte vor ihm, ein weltumspannendes unterirdisches Höhlensystem, in dem sich Gase abrupt gegenseitig verdrängen. Andere vermuteten unterirdische elektrische Entladungen oder eine kurzzeitige Richtungsänderung der Schwerkraft. Erst vor einem halben Jahrhundert einigte sich die Forschungsgemeinschaft auf die Theorie, dass unsere gesamte oberirdische Welt auf riesigen, zwanzig bis 250 Kilometer dicken Kontinentalplatten ruht, die auf einer zähflüssigen Schicht schwimmen. Und diese Platten bewegen sich unentwegt. 

 

Die Oberfläche, auf der wir alle gerade sitzen, zittert deswegen ständig, nur meistens so sanft, dass wir es nicht merken. Erst wenn sich die Platten ineinander verkeilen, wird es gefährlich. Um zu verstehen, was dann passiert, können wir einfach mit den Fingern schnippen: Zwischen Daumen und Mittelfinger entsteht Druck, die Reibung erhöht sich immer stärker, bis der Mittelfinger ruckartig nachgibt und wegrutscht – »Schnipp«. So ähnlich verhalten sich auch die Platten tief in der Erde. Nur dass dieser »Schnipp« die Kraft hat, alles mit sich zu reißen. Häuser, Büros, Schulen, Fabriken, Kraftwerke, Brücken, Krankenhäuser, alles. 

 

Auch fern der Plattengrenzen können alte Risse die Erde erschüttern. Der Rheingraben in Deutschland ist eine dieser Verwerfungen. Er zittert ständig leicht und bebt etwa alle zehn Jahre stärker. Der Vogelsberg in Hessen und die Vulkaneifel in Rheinland-Pfalz sind alte Vulkane, die wieder aktiv werden können. Sie alle sind Schwachstellen der Kontinentalplatte. Die größte Gefahr aber droht am südlichen Rand, dort wo die eurasische auf die afrikanische Platte stößt und die anatolische Platte von Osten herandrängt. In der Nähe haben Menschen große Metropolen errichtet. Erst im Juli wurde Athen von einem mittel- starken Beben erschüttert. Und Neapel, Lissabon und Istanbul müssen sich auf einen »Schnipp« gefasst machen. Wie leben ihre Bewohner mit der unsichtbaren Bedrohung, wie bereiten sich Gesellschaften auf unausweichliche Katastrophen vor?

 

NEAPEL: Spiel mit dem Feuer 

 

Dreimal im Jahr starren die Neapo­litaner auf eine Ampulle voll ge­ronnenem Blut und beten. In der Kathedrale an der Via Duomo in der Alt­stadt dreht der Erzbischof dann das sonst unter Verschluss gehaltene Fläschchen in seinen Händen, und sie murmeln und sie bangen und sie drängen. Das nun vertrocknete Blut soll einst in den Adern des Schutzpatrons San Gennaro pulsiert haben. Die Neapolitaner glauben: Ver­flüssigt es sich an drei heiligen Tagen im Jahr, dann beschützt San Gennaro seine Stadt. Tut es das nicht, muss sie eine Kata­strophe fürchten. Es ist ein Ri­tual, ein Aberglaube, vielleicht ein simpler Zaubertrick, aber nachdem das Blutwunder 1980 ausgeblieben war, verwüstete ein Erdbeben die Region. 

 

Die Wahrscheinlichkeit für Katastrophen ist in Neapel groß. Einen der Schuldigen dafür bezeichnete Goethe einst als einen »im Paradies aufgetürmten Höllengipfel«: den Vesuv. In dessen Schlund springt Berardino Bocchino nun in großen Sätzen hinab. Er stört sich nicht an den klirrenden Bimsstein­lawinen, die er dabei lostritt, er reitet viel­ mehr auf ihnen hinab. Er ist des Vulkans engster Vertrauter. 

 

Den Vesuv gibt es, weil sich unter ihm die afrikanische Platte unter die eurasische Platte schiebt, Subduktion nennt sich das. Wegen des starken Drucks und der hohen Tempera­turen schmilzt die abtauchende Platte tief unter der Erde und dringt dann durch den Schlund des Vulkans als Magma zurück zur Oberfläche – irgendwann. Anders als etwa der Stromboli vor Sizilien, der alle zehn Minuten leicht ausbricht und manchmal – wie nun Anfang Juli – stärker, schweigt der Vesuv die meiste Zeit. Am Rand des Kraters bricht der Boden in dunklen Zacken in die Tiefe ab, schwefelhaltiger Wasserdampf raucht aus Felsrissen, und der Wind zerrt an den porösen Lavasteinen, als wollte er sie forttragen. In das Kraterinnere aber schafft es kein Luftzug, nur die Sonne. Im Inneren ist es friedlich. 

 

Der Ruf eines Falkenkükens hallt im Kessel nach. Manchmal begegnet Bocchino den Kaninchen, Hasen, Eidechsen und Schlangen, die hier leben. Der Krater ist vollständig ge­schlos­sen, das Magma kocht tief verborgen un­ter der Oberfläche. Darauf gedeihen Bäume, an seinem tiefsten Punkt streckt eine Weide ihre weißen Blütenkätzchen in die Sonne. Von hier aus trennen Bocchino 220 Meter bis zum Rand des Trich­ters, die letzten zehn davon wird er auf seinem Rückweg nur mit Hilfe eines Seils und Klettergeräten überwinden können. Er ist 56 Jahre alt, sein halbes Leben lang schon kommt er alle zwei Wochen hierher. Für das Osservatorio Vesuviano, das zum Nationalen Institut für Geophysik und Vulkanologie ge­hört, zieht er Gasproben in gläserne Ampul­len und hält die Messinstrumente intakt, die alle zwei Stunden Daten an das Observatori­um schicken, um den Vulkan im Blick zu behalten. 

 

Allen ist klar: Der Friede hier ist nicht von Dauer, eines Tages werden heißer Dampf und Magma aus zehn Kilometer Tiefe nach oben schießen und alles mit sich in den Himmel reißen – den Kraterboden, die Messinstru­mente, die Weide, die Kaninchen, Hasen, Eidechsen, Schlangen und die Falkenküken. Die Hoffnung ist, dass der Höllengipfel früh genug Bescheid sagen wird, denn nicht nur Berardino Bocchino sollte dann besser weit weg sein, sondern auch die Millionen Men­schen, die zu Füßen des Vulkans leben. Wie viele von ihnen vor einem Ausbruch fliehen müssen und ob sie dafür genug Zeit haben werden, darüber streiten sich Wissenschaft­ler, Zivilschützer und Politiker seit Jahren. 

 

»Wenn der Vulkan morgen ausbräche, gäbe es keine Strategie, um die Menschen zu retten«, sagt Giuseppe Mastrolorenzo, ein braun gebrannter Mann mit tief liegenden Augen. Mastrolorenzo ist Vulkanologe am Observatorium, er und Bocchino kennen sich seit dreißig Jahren, mehrmals stiegen sie gemeinsam in den Krater des Vesuvs ab. Mit seinen harschen Aussagen ist Mastrolorenzo ein Außenseiter, die meisten seiner Kolle­gen halten sich bedeckt. Seismologen und Geologen weltweit wählen ihre Worte seit sieben Jahren noch vorsichtiger als ohne­ hin schon. Damals wurden sieben italie­nische Forscher vom Gericht der Stadt L’Aquila zu Haftstrafen verurteilt mit der Begründung, sie hätten nicht deutlich genug vor dem Erdbeben gewarnt, das 2009 in L’Aquila mehr als 300 Menschen getötet hatte. In zwei­ter Instanz wurden sie freigespro­chen, die Verunsicherung aber blieb. 

 

Mit Wahrscheinlichkeiten lässt sich nur schwer vor Ge­fahren warnen. Jahrzehntelang hatten Seismologen gehofft, allgemeingültige Vorläuferphäno­mene für Erdbeben und Vulka­nausbrüche zu finden, die ein­deutige Vorhersagen möglich machen würden. Sie haben sie nicht gefunden. Ihr einziger Anhalts­punkt ist die Statistik, und die ist bei der Berechnung von großen Zeit­abständen extrem fehleranfällig. War­nen die Forscher vorschnell, lösen sie Chaos und teure Evakuierungen aus. Warnen sie verspätet, riskieren sie viele Todesopfer. Auch Giuseppe Mastrolorenzo kennt das Datum des nächsten großen Vesuv­-Ausbruchs nicht, aber er weiß, er wird kom­men. »Was in der Vergangenheit pas­siert ist, wird auch in der Zukunft passieren«, sagt er. 

 

Vor rund 4000 Jahren erschüt­tert ein donnernder Überschall­knall den Golf von Neapel. Asche, zu Steinen erstarrte Lava und größere Lavabomben wer­den in einer 36 Kilometer hohen Säule bis in die Stratosphäre geschleudert und hageln stundenlang aufs Land. Mindestens sechsmal bricht die Säule zusammen und rast als pyroklastischer Strom mit 540 Stundenkilometern in Richtung Nordwesten die Hänge des Vul­kans hinab, bis in das heutige Zentrum Nea­pels. Im Umkreis von zwölf Kilometern zer­stört und tötet die fast 500 Grad heiße Lawine alles. Von dem Ausbruch ausgelöster Starkregen mischt sich mit Asche und Steinen zu einer Schlammlawine, die Dörfer und Leichen unter sich begräbt. 230 Jahre lang macht die meter­hohe Ascheschicht menschliches Leben in der Region unmöglich.

 

1900 Jahre später bricht der Vesuv erneut aus und zerstört Pompeji. Hunderte Menschen suchen in den Bootshäusern in Herculaneum Schutz, 2001 weisen Wissenschaftler an ihren Ske­letten nach, dass der pyroklastische Strom sie bin­nen eines Sekundenbruchteils tötete. Die Klei­dung verbrannte, ihr Fleisch verdampfte, die Gehirne platzten aus den Schädeln. Es ist dieser Ausbruch, der die Messlatte für eine besonders starke Eruption festlegt, nach seinem Chronisten Plinius dem Jüngeren »plinianische Eruption« ge­nannt. Und es ist auch dieser Ausbruch, der den heutigen Vulkankegel aus dem alten Krater wach­sen lässt. Der alte Kraterrand rahmt den Vesuv nun in einigem Abstand in einem Halbkreis ein und wird künftige pyroklastische Ströme in Richtung Neapel lenken.

 

Heute leben mehr als drei Millionen Menschen rund um den Vulkan – nicht trotz, sondern wegen ihm. Seine Erde ist besonders fruchtbar, auf ihr bauen sie Wein an und die monatelang haltbaren Tomaten Pomodorino del Piennolo. Wie Motten tanzen die Menschen um sein Licht. Neapel ist ein Synonym für Chaos, das Leben ist laut, impulsiv und ruhelos, wie der Vulkan selbst. Für viele Bewohner ist es ein Ritual, ihn jeden Morgen durchs Fenster zu grüßen, para­doxerweise sagen manche sogar, sie fühlten sich von ihm beschützt vor dem Feuer, das er auf sie spucken wird. Der Vulkan ist ihnen ein mächtiger Freund, der die meiste Zeit Ruhe schenkt und nur manchmal zer­störerisch wütet. Zuletzt brach der Vesuv 1944 aus und tötete 26 Menschen.

 

Für Angelo Pesce war das kein Grund fortzugehen. Zwischen Vulkan und Meer bewohnt der heute 88­-Jäh­rige ein stattliches Haus mit Garten und Pool. Er erin­nert sich gut an die Wolken über dem Krater, die den roten Schein der Lava reflektierten, an das Geräusch der Steine, die auf dem Boden aufschlugen und in tausend Stücke zersprangen, an die Soldaten, die zu den Waffen griffen, weil sie den Steinregen für Bomben hielten, an den Hunger in den Monaten danach. Nur die Gefahr, sagt er, habe er schnell wieder vergessen. 

 

Die Regierung der Region Kampanien, in der Neapel liegt, bot den Bewohnern der Gefah­renzone zu Anfang des Jahrtausends jeweils 30.000 Euro, damit sie woanders hinzögen, weg vom Vulkan. Mit mäßigem Erfolg – heu­te will die Regionalregierung die Maßnahme auf Anfrage nicht kommentieren, und sie will auch keine Aufzeichnungen darüber in ihrem Archiv finden. 

 

Bis 1995 hatte es nicht einmal einen Notfallplan gegeben, erst 2001 zog der Zivilschutz eine rote Zone um den Vesuv und erweiterte diese 2014. In ihr herrscht im Falle eines Ausbruchs offiziell Todesgefahr. Sie umfasst 25 Gemeinden mit rund 700.000 Einwohnern. Kündigt sich ein Ausbruch an, will der Zivilschutz sie binnen 72 Stunden mit Bussen außer Gefahr bringen. Eine größere gelbe Zone, die Asche­ und Stein­regen ausgesetzt sein werde, solle eventuell spontan geräumt werden. Dass der bis heute unvollständige Plan nicht funktionieren wird, bewiesen die Zivilschützer vor 13 Jahren selbst, als sie den Ernstfall probten und 1800 Menschen aus der roten Zone in Sicherheit bringen wollten. In der Nacht zuvor hatte starker Regen meh­rere Straßen überschwemmt und so für reale Katastrophenbedingungen gesorgt. Chaos brach aus, die Evakuierung scheiterte.

 

Das ist aber längst nicht das einzige Pro­blem mit diesem Plan. Giuseppe Mastrolorenzos Hauptkritik richtet sich auf die Grundannahmen Größe und Zeit: Der Plan des Zivilschutzes geht nur von einer sub­plinianischen, also verhältnismäßig kleinen Eruption aus. »Dafür gibt es keinen wissen­schaftlichen Grund«, sagt der Vulkanologe. »Das ist doch absurd: Plinianische Ausbrüche sind nach dem Vesuv benannt, dann muss man auch mit ihnen rechnen.« Das würde bedeuten, den von mehr als einer Mil­lion Menschen dicht bewohnten Stadtbezirk Neapel mit in den Evakuierungsplan einzu­beziehen. Und dann die Zeit: »Vulkane kön­nen jederzeit ausbrechen«, erklärt Mastro­lorenzo – dass ihnen 72 Stunden für die Evakuierung bleiben, ist eine Hoffnung, keine Gewissheit. 

 

Und all das ist immer noch nicht das größte Problem von Neapel. Dafür sollte man ver­stehen, wo das Gebäude steht, in dem sich Mastrolorenzo ein enges Büro mit seinem weißen Schäferhund Zeus teilt. Vom Vesuv im Osten muss man auf die andere Seite, durch diese grässlich schöne Stadt, in deren verstopften Straßen kein Auto heile bleibt, an deren Hauswänden Madonna und Maradona ebenbürtig gehuldigt werden, in deren Vierteln die Camorra ihre Macht­kämpfe austrägt und in der so viele histo­rische Bauwerke stehen, dass die Gegen­wart an der Vergangenheit zu ersticken droht. Dort, im Westen der Stadt, kocht unter der Erde eine viel größere Gefahr: die Phlegräischen (altgriechisch: brennenden) Felder, ein mächtiger Supervul­kan. Und das Observatorium steht mitten in dessen riesigem Krater. 

 

Wenn Giuseppe Mastrolorenzo­ sein Fenster öffnet, kann er den Schwefel riechen, »den Atem des Vulkans«, wie er sagt. Und wenn etwas atmet, dann hebt und senkt sich die Brust, in diesem Fall die Erde: Das weltweit einzigartige Phänomen Bradyseismos sorgte da­für, dass sich der Boden zuletzt in den Siebziger­ und Achtzigerjahren so stark hob, dass mehrere Gemeinden umgesiedelt werden mussten. Sie leben nun im eilends gebauten Plattenbauviertel Monterusciello, nach wie vor innerhalb des Kraters.

 

»Die Gefahr ist dieselbe«, sagt Giu­seppe Di Roberto, der an der Bar eines Cafés in einer der Platten­bauten steht. Er wurde als Zwölf­jähriger mit seiner Familie umgesiedelt. Seine müden Augen, die von einer randlosen Brille einge­rahmt werden, zeigen keine Re­gung, als er fortfährt: »Die Ge­fahr ist Teil unserer Identität.« ­ 

Das Inferno ist Teil ihrer Vergangenheit, und es wird auch Teil ihrer Zukunft sein. Vor 15.000, 29.000 und 39.000 Jahren brachen die Phlegräischen Felder zehn- bis achtzigmal stärker aus, als es dem Vesuv möglich ist. Die Ausbrüche begruben die gesamte Region unter sich, ganz Neapel ist auf und teilweise aus Vulkanstein gebaut. Die Aschepartikel in der Atmosphäre lösten in weiten Teilen der Erde einen jahrelangen vulkanischen Winter aus, was zum Aussterben der Neandertaler beigetragen haben könnte. Brächen die Phlegräischen Felder erneut in einer solchen Größenordnung aus, wären rund drei Millionen Menschen am Golf von Neapel in unmittelbarer Lebensgefahr. Trotzdem plant der Zivilschutz auch bei dem Supervulkan mit einer eher kleinen Eruption und brächte im Ernstfall nur 450.000 Menschen fort. Man könnte das damit rechtfertigen, dass die gigantischen Ausbrüche ewig zurückliegen. Doch je mehr Zeit vergeht, desto wahrscheinlicher wird solch ein Großereignis. Und der Supervulkan regt sich wieder, 2012 rief der Zivilschutz die zweite von vier Alarmstufen aus: Es herrscht erhöhte Aufmerksamkeit.

 

Giuseppe Mastrolorenzo wirft den Behörden einen typisch neapolitanischen Umgang mit dem Risiko vor: Facite ammuina, Verwirrung stiften. Die Redewendung geht auf ein angebliches Schiffskommando im 19. Jahrhundert zurück, wonach alle an Bord die Position wechseln sollten, wenn Vorgesetzte an Bord kamen, um Geschäftigkeit vorzutäuschen, ohne dass tatsächlich etwas passiert. Und es ist vielleicht auch typisch neapolitanisch, dass diese Entstehungsgeschichte erfunden ist.

 

„Kampanien ist die Nummer eins“, sagt Claudia Campobasso ungerührt von derlei Kritik – die Nummer eins im Zivilschutz, meint sie. Seit einigen Monaten ist sie die Direktorin der regionalen Protezione Civile, an ihrem Revers trägt sie eine handtellergroße Stoffblume. Stolz führt sie durch den Operation Room zum Emergency Desk, eilends werden Überwachungsbildschirme angeschaltet und Espressi in Plastikbechern verteilt. Aus ihrem Büro im 16. Stock im Geschäftszentrum Neapels kann sie den Vesuv sehen. „Schön, nicht wahr?“

 

Sie erklärt gelassen, dass im Falle einer Eva­kuierung auch jeder mit seinem eigenen Auto fliehen könne, die Straßen würden dann frei sein, dafür würden sie sorgen. »Der Vulkan wird den Ausbruch vorher ankündigen«, fährt sie fort, das sei wissenschaftlich bewiesen. Ex­perten wie Mastrolorenzo halten ein Verkehrs­chaos für wahrscheinlicher, das die Menschen zwingen wird, zu Fuß zu fliehen. Bei der Erwähnung seines Namens erstirbt Campobassos Lächeln. Mit seinem Institutsleiter solle man sprechen, nicht mit ihm, »Wissenschaftler haben ihre eigenen Meinungen«. Zehn Minuten später erklärt sie das Interview für beendet, sie ver­sichert, auf schriftliche Nachfragen zu antworten, wird das aber nie tun. 

 

Gegenüber vom Ausgang hängt das Bild eines ausbrechenden Vulkans, die Lava spritzt in roten und gelben Wollfäden aus dem Krater. Die Licht­schranke der Automatik-Schiebetür ist kaputt. Wer das Hauptquartier des Zivilschutzes im Schatten des Vulkans verlassen will, muss einen Zettel zwi­schen die Türen schieben, damit sie sich öffnen. 

 

LISSABON: Grenzen der Aufklärung 

 

Naturkatastrophen zerstören nicht nur Teile unserer Welt, sondern auch Weltbilder. In keiner europä­ischen Stadt ist diese Gewissheit so präsent wie in Lissabon. Ihr Trauma ist Europas Trauma. Die Schwie­rigkeit ist, die Erinnerung daran am Leben zu erhalten und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. 

 

Europas Geschichte teilt sich in ein Davor und ein Danach. Vorher, da war Portugal eine Weltmacht mit weitreichenden Kolonien. Lissabon, damals eine der größten Städte Europas, war ihr strahlendes Zentrum, ihr Hafen am Fluss Tejo das Tor zur Welt. Nachher, da war nichts mehr so wie vorher. Da­ zwischen bebte die Erde.

 

1. November 1755: Es ist Allerheiligen und Lissabon eine gläubige Stadt. Ihre Bewohner haben Kerzen für die Toten entzündet und drängen sich in den Kirchen, als die Erde gegen zehn Uhr am Vormittag für mehrere Minuten zu beben und zu heulen beginnt. Die Erschütterung ist so gewaltig, dass die meisten Gotteshäuser auf die Betenden nieder­stürzen. Wenn nicht beim ersten Schock, dann bei einem der beiden folgenden. Der Rauch der Feuer, die die umstürzenden Kerzen entfachen, und der Staub der kollabierenden Häuser ver­dunkeln die Sonne. Blind, ängstlich und verwirrt fliehen viele zum Terreiro do Paço, dem großen Platz neben dem Palast am Ufer des Tejo. Doch dort finden sie keine Sicherheit: Rund vierzig Minuten nach dem ersten Beben rast ein 15 Meter hoher Tsunami den Fluss hinauf und spült die Schutzsuchenden zusammen mit Booten und Trümmern zurück in die zerstörte Stadt. Die Feuer wüten eine Woche lang. Manche beschrie­ben es als den perfekten Albtraum.

 

Die katholische Kirche sah die Kata­strophe als Zeichen für Gottes Zorn über die sündige Stadt, die zu tolerant mit Un­gläubigen und Protestanten umgegangen sei. Die protestantische Kirche hingegen beschuldigte die Inquisition und die katholische Kirche, den Zorn Gottes auf sich gezogen zu haben und für das Un­glück verantwortlich zu sein. Auch heu­te noch wenden sich Menschen nach einem Erdbeben vermehrt der Religion zu, um mit Hilfe des Glaubens die un­berechenbare Katastrophe zu erklären und zu verarbeiten, das hat 2018 eine Forscherin der Universität Kopen­hagen empirisch belegt.

 

Und doch sollte es dieses Erd­beben sein, das den Anstoß für eine alternative Erklärung gab: die Kraft der Natur. Das Beben von Lissabon wurde als erstes überhaupt als Natur­katastrophe bezeichnet und wird als Katalysator für die Aufklärung ange­sehen. Damals starben nicht nur 60.000 bis 100.000 Menschen, es starb durch die Federn der Philo­sophen auch Gott. Infolge der Kata­strophe brachten Denker in ganz Europa das religiöse Weltbild zu Fall. Gottfried Wilhelm Leibniz’ optimistische Behauptung, Gott habe die beste aller möglichen Welten erschaffen, empörte Vol­taire: »Ein Vater, der seine Kinder umbringt, ist ein Ungeheuer (...) Wenn man sich Gott so gütig und so gerecht vorstellt, wie ein Vater und ein König es sein sol­len, gibt es keine Möglichkeit mehr, ihn zu rechtfertigen.« Jean­ Jacques Rousseau fühlte sich zu einer Entgegnung pro­voziert: »Jener Optimismus, den Sie so grausam finden, tröstet mich doch gerade in den Schmerzen, die Sie als un­erträglich schildern.« Nicht Gott sei verantwortlich für das Leid, sondern der Mensch selbst: »Bleiben wir bei Ihrem Thema Lissa­bon, so sollten Sie z.B. eingestehen, daß nicht die Natur dort 20000 Häuser zu je sechs bis sieben Etagen erbaut hat, und daß der Schaden, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger verteilt und in leichteren Bauwerken gewohnt hätten, viel geringer oder vielleicht überhaupt keiner eingetreten wäre.« Und auch Immanuel Kant dachte in eine ähnliche Richtung: »Es war nöthig, daß Erdbeben bisweilen auf dem Erdboden geschähen; aber es war nicht nothwendig, daß wir prächtige Wohnplätze darüber erbaueten«, schrieb er. »Der Mensch muß sich in die Natur schicken lernen, aber er will, daß sie sich in ihn schicken soll.« In mehreren Schriften versuchte Kant, die Ur­sache des Bebens zu ergründen, stieß aber an seine Grenzen. »Allein wir haben noch eine Welt unter unsern Füßen, mit der wir zur Zeit nur sehr wenig bekannt sind«, stellte er 1756 frustriert fest.

 

Zwar hat die Menschheit in den vergan­genen 250 Jahren viel dazugelernt, über die Welt unter unseren Füßen aber wissen wir bis heute noch immer recht wenig. In der Tief­see fällt es uns schwerer, Seismometer zu in­stallieren, als auf dem Mars: Die NASA­-Sonde Insight setzte im Dezember 2018 ein solches Gerät auf dem Roten Planeten aus, doch im­mer noch fehlt ein Überwachungssystem vor der Küste Portugals, das auch zur Früh­warnung genutzt werden könnte. Das größte Problem unter Wasser ist die Stromversor­gung. Weltweit forschen Wissenschaftler des­wegen daran, Glasfaserkabel, wie etwa vor der Küste Japans, als Seismometer zu nutzen. Das würde auch vor Portugal funktionieren, doch zum einen ist die Umsetzung teuer und Portugal ein von der Wirtschaftskrise gebeu­teltes Land, zum anderen muss man wissen, woher das große Beben kam, um künftige dort aufzeichnen zu können. 

 

»Wir kennen den Ursprung des Bebens von 1755 immer noch nicht sicher«, räumt João Duarte ein. Aber: Dem Geologen ist nun, nach 264 Jahren, der Durchbruch bei der Suche gelungen – wahrscheinlich. Ge­wissheit gibt es in der Geowissenschaft selten, da das Forschungsgebiet größtenteils tief unter der Erde und damit außerhalb der menschlichen Reichweite liegt. Der 37­-Jäh­rige arbeitet in einem kleinen Raum der geo­wissenschaftlichen Fakultät der Universität Lissabon sechs Kilometer nördlich des Stadt­zentrums. Umzugskartons voller Bücher stehen auf dem Boden, dazwischen eine Holzkiste mit Gesteinsproben. Inmitten von diesem Chaos gelang es ihm nicht nur, das Beben von 1755 zu lokalisieren, er entdeckte dabei auch eine geologische Sensation.

 

Das Erdbeben war noch in Deutschland und auf den Kapverden spürbar, der von den Erschütterungen ausgelöste Tsunami zer­störte Häuser an der Südküste Großbritanniens und reichte bis an die Ostküste Südameri­kas. Die Stärke des Bebens wird auf 8,5 bis 9 auf der Momentmagnitudenskala geschätzt – während die Richterskala die freigesetzte Ener­gie angibt, berechnet diese sich aus der Länge des Bruchs. Wissenschaftler bevorzugen sie mittlerweile, weil sie starke Beben präziser wiedergeben kann. Die Stärke war eigentlich typisch für Subduktionszonen – Brüche, an de­nen eine Platte unter die andere taucht –, nur gab es vor Portugal keine solche Zone. Also ver­maßen Geologen den Meeresboden und ent­deckten die Gorringe­-Bank, ein unterseeisches Gebirge größer als die Alpen, und mehrere Ver­werfungen. João Duarte fertigte im Rahmen sei­ ner Doktorarbeit eine aktualisierte Karte der Re­gion an. Jahrelang vermuteten die Forscher den Ursprung des Megabebens irgendwo dort. 

 

Doch als es 1969 erneut bebte – so stark, dass die Federn vieler Seismometer heraussprangen und die restlichen eine Magnitude von 7,9 aufzeichneten, so stark, dass viele Lissabonner aus Angst wochen­lang in den Parks zelteten –, kam das Beben von einem unerwarteten Ort. Es entsprang nicht den Verwerfungen, sondern einer flachen Tiefseeebene. Dort, wo sie dieses Erdbeben lokalisiert hatten, installierten Duarte und ein internationales Forscherteam Seismometer und ent­deckten in vierzig bis sechzig Kilometern Tiefe einen möglichen Erdbebenherd, »dieses große Ding«, wie Duarte es nennt. Seine Schlussfolgerung ist, dass sich dort eine neue Subduktionszone bildet. Im April 2019 stellte er seine Theorie auf der größten Geowissenschaftskonferenz Europas in Wien vor, die Fachwelt war begeistert, weltweit berichteten Medien über die Entdeckung. 

 

Hat Duarte Recht, dann bricht die eurasische Kontinentalplatte gerade entzwei. Der Atlantik hat sich bislang immer weiter ausgebreitet, die neu entdeckte Subduktionszone könnte bedeuten, dass er von nun an zu schrumpfen beginnt, bis sich der amerikanische und der eurasische Kontinent treffen. In der fernen Zukunft könnte die Erde also wieder wie Pangea aussehen, der letzte Superkontinent.

 

Die Entdeckung versetzt Wissenschaftler weltweit in Aufruhr. Das Problem ist nur: Sie versetzt sonst niemanden in Aufruhr. Laien verstehen sie schlichtweg nicht. Was nutzen der Menschheit große Erkenntnisse, wenn sie den Kreis der Experten nie verlassen? Wenn die Forschungsergebnisse auf Konferenzen bestaunt werden und anschließend zwischen schweren Buchdeckeln in Geophysischen Instituten verstauben? 

Die Lissabonner täten gut daran, Duartes Forschung zu begreifen – und die Wissenschaft daran, sie so vielen Menschen wie möglich begreiflich zu machen. Denn die Entdeckung des jungen Geologen ist nicht nur eine Erklärung für das gewaltige Beben vor 264 Jahren, sie ist auch eine Prophe­zeiung für die Zukunft: »Es wird wieder ein großes Erdbeben geben, und es wird viele Menschen töten, das ist die einzige Sache, der wir uns sicher sein können«, sagt Duarte. Wie sich die Stadt darauf vorbereitet, dazu will sich Lissabons Katastrophenschutz­ beauftragter auf Anfrage nicht äu­ßern.

 

Auf dem Strand am Ende des Terreiro do Paço baut ein Mann Figuren aus Sand. Stundenlang schaufelt, formt und bewässert er sie. Er lebt davon, dass Touristen dafür bezahlen, wenn sie von seinen Skulpturen Fotos schießen. Der Sandkünstler baut Mammuts, rund drei Meter lange Abbilder der aus­gestorbenen Art. Bei der nächsten großen Welle werden sie sich in Milliarden von Körner auflösen und der Stadt Lissabon zeigen, was ihr bevorsteht, wenn der Tsunami kommt.

 

Nicht weit davon steht das Rei­terstandbild von König Joseph I., der nach dem Erdbeben von 1755 aus Furcht vor erneuten Beben den Rest seines Lebens in einem Holzpalast außerhalb der Stadt verbrachte. Während er sich wegduckte, wurde die Hauptstadt wieder aufge­baut – an demselben ge­fährlichen Ort. 

 

ISTANBUL: Kurzsichtigkeit der Macht

 

Das Ohr der Forscher liegt auf einer kleinen Insel vor der Küste, versteckt in einem pinien­bewachsenen Berg. In 300 Meter Tiefe zeich­nen Seismometer das Atmen der Erdkruste auf. Denn dort, auf dem Grund des Marmara­meeres, liegt die Gefahr, die Istanbul zu zer­stören droht. Drei Kilometer südlich der Messstation verläuft die nordanatolische Ver­werfung, die das Potenzial hat, die Millionen­metropole Istanbul in Schutt und Asche zu legen. Die Frage ist auch hier nicht, ob, die Frage ist, wann. 

 

Drei herrenlose Pferde grasen im Schat­ten der Bäume. Zwischen den Ästen eröffnet sich der Blick auf die ewige Stadt am Bospo­rus. Seit mehr als 10 000 Jahren siedeln Men­schen am Riss zwischen den Kontinenten, hier erwuchs seit dem vierten Jahrhundert eine Weltstadt, die Europa bis heute prägt. In einer Ode an den Zauber seiner Heimat schrieb der Poet Orhan Veli Kanık 1949: »Ich hör Istanbul, mit geschlossenen Augen.« Der Dichter lauscht dem Schreien der Vögel, den Rufen der Basarverkäufer, den Hammer­schlägen an den Schiffsdocks, den Flüchen und Liedern der Städter. 

 

An einem unbekannten Tag in der Zu­kunft aber wird ein tiefes Grollen all das übertönen, dann, wenn sich eine 51 000 Ku­bikkilometer große Landmasse mit einem Ruck fünf Meter Richtung Westen schiebt. Davon angestoßen, rast die erste Stoßwelle durch die Erdkruste auf die Stadt zu. Mit einem Mal löst sich die Spannung, die sich seit dem jüngsten großen Beben vor Istanbul vor 253 Jahren angestaut hat. »Schnipp«. Innerhalb von wenigen Sekunden erreicht das Beben die Stadt, lässt Häuser einstürzen, Gas­, Strom­ und Wasserleitungen bersten, das Telefonnetz zusammenbrechen. Das Be­ben dauert kaum mehr als eine Minute – für die Bewohner fängt das Leid da gerade erst an. 30 000 Tote, mit dieser Zahl kalkuliert der staatliche Katastrophenschutz, interna­tionale Untersuchungen sagen 90.000 Todes­opfer und mehr voraus. 

 

Wissenschaftler warnen seit vielen Jahren vor diesem Szenario. Die Wahrscheinlichkeit für ein Beben der Stärke 7,4 direkt vor der Küste Istanbuls liegt bei mehr als sechzig Prozent für die kommenden dreißig Jahre, diese Berechnung des Amerikanischen Geologischen Dienstes gilt unter Experten welt­weit als unstrittig. Die Katastrophe scheint unausweichlich für die mehr als 15 Millionen Menschen, die in Istanbul leben. Es steht zu befürchten, dass die Stadt an der Kurzsich­tigkeit der Macht zugrunde gehen könnte. »Wer Istanbul regiert, wird die Türkei regie­ren«, sagte der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan einst siegessicher über die größte Stadt des Landes, die mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes der Türkei erwirtschaftet. Aber was, wenn in Wahrheit die Angst regiert und unter ihrer Herrschaft die letzte Chance, Istanbul vor dem Unter­ gang zu schützen, ungenutzt verstreicht? 

 

Die Bruchzone vor der Küste Istanbuls ist für Geophysiker eine Attraktion. Unzählige internationale Kooperationen beschäftigen sich mit der Verwerfung zwischen der westwärts strebenden anatolischen Mikroplatte und dem eurasischen Kontinent. Die örtliche Katastrophenschutzbehörde AFAD speist mit deren und eigenen Daten ihr automatisches Frühwarnsystem, das im Ernstfall Gas­- und Stromleitungen kappt, Brücken sperrt, die U­-Bahnen stoppt. Gefährlicher noch als das Beben sind die unvermeidlichen Explosio­nen, Brände und Chemikalienlecks. Für die Bewohner gibt es kein Frühwarn­system. Bis zum Eintreffen der ersten Erdbebenwelle bleiben nur wenige Sekunden. Zu wenig, um zu fliehen. 

 

Im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten gibt es zwei Arten von Menschen: jene, die bei einer sechzigprozentigen Chance auf Regen den Schirm einpacken, und jene, die es nicht tun – nicht mal, wenn statt des Regens der Untergang droht. Nusret Suna ist ein Mann, der seine Mitmenschen vom Sinn des Regenschirms überzeugen will. Der 64-Jährige ist der Präsident der Kammer der Bauingenieure in Istanbul, sein Büro liegt keine hundert Meter vom Ufer des Bosporus entfernt. „Wir fühlen uns manchmal wie die Kassandra von Istanbul“, sagt er. „Wir mahnen, aber niemand will die Mahnung hören.“ Sie lautet: Istanbul ist nicht bereit für das kommende Erdbeben. Nach Schätzungen der Bauingenieurs-Kammer sind die Hälfte der Häuser illegal gebaut und entsprechen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht den Sicherheitsvorgaben, bis zu 50.000 werden bei einem Beben massiv beschädigt werden, bis zu 6000 werden ihre Bewohner unter sich begraben. „Niemand übernimmt dafür Verantwortung“, sagt Suna, nicht die Politik und auch nicht die Bewohner. „Die Stadt beugt sich ihrem Schicksal und wartet einfach auf das nächste Beben.“

 

Dabei braucht es in Istanbul nicht einmal ein Erdbeben, damit Gebäude einstürzen. Immer wieder kollabieren Häuser wegen baulicher Mängel, zuletzt Anfang Februar 2019: Ein achtstöckiges Haus begrub 35 Menschen unter sich, 21 von ihnen starben. „Es dauerte eine Stunde, bis die Rettungskräfte vor Ort waren“, erzählt Suna, die Rettungsgassen seien zugeparkt gewesen. „Und nun stellen Sie sich vor, was passiert, wenn tausende Gebäude in der Stadt zusammenbrechen.“

 

Eigentlich ist klar: Die einzige Vorbereitung auf ein Erdbeben ist eine erdbebensichere Bauweise. Doch die Umwandlung ist teuer. In Istanbul überlässt die Stadtregierung das bisher in weiten Teilen dem freien Markt. Damit konzentriert sich die Sanierung auf die lukrativen Wohngegenden. Um die Umwandlung der Gebäude zu finanzieren, vergrößern die Bauherren die Häuser, bauen eine oder zwei Etagen mehr und verdienen an deren Verkauf mit. Grundsätzlich könnten diese Häuser dann noch erdbebensicher sein – doch die Infrastruktur wird überlastet, das Leben in der Stadt immer beengter. Wenn die Katastrophe eintritt, müssen darunter alle leiden. 2,4 Millionen Menschen werden ohne Obdach sein, das elektronische Bürgerportal der Türkei soll ihnen den Weg zur nächsten Erdbebensammelstelle weisen. Sunas Assistent Alper Uluşan öffnet auf seinem Smartphone die offizielle Karte, die eine kleine Kreuzung am Ende der Straße als Sammelstelle ausweist. „Wenn sich da alle aus dem Viertel treffen, können wir nicht mal mehr Luft holen“, sagt Uluşan und lacht trocken auf.

 

Für den Fall der Katastrophe sollen Freiflächen zur Verfügung stehen, auf denen die Menschen Zuflucht finden. Dort werden Zelte errichtet, es braucht Wasseranschlüsse, Stromversorgung und Transportrouten, um die Überlebenden zu erreichen. 2872 solcher Zufluchtsorte gibt es laut offizieller Statistik, 77 davon hält die Kammer der Bauingenieure für hinreichend ausgestattet. Auf vie­len der ausgewiesenen Frei­flächen ließ die Stadtregierung in den vergangenen Jahrzehnten Residenzen, Bürogebäude und Einkaufszentren bauen. Auf vielen Notfall­transportrouten – extrabreiten Straßen, die ein schnelles Durchkommen der Rettungs­kräfte ermöglichen sollen – darf heute an den Straßenrändern gebührenpflichtig ge­parkt werden. Am Tag des Erdbebens wird das unzählige Menschen das Leben kosten. Bis dahin ist es eine lukrative Einnahmequelle für die Stadt.

 

»Das Beben wird alles zerstören«, sagt Suna, und Uluşan ergänzt: »Die Überleben­den werden Gott anflehen, auch sie zu töten.« Ob sie selbst Vorkehrungen für das Erdbeben treffen, ihre Wohnung erdbeben­sicher einrichten oder Wasservorräte anlegen? Beide schütteln den Kopf. In der Risikoforschung nennt man dieses Phänomen das Wahrnehmungs-­Paradox: Menschen sind sich des Ausmaßes der Gefahr bewusst, aber sie haben kein Vertrauen, dass sie von den Obrigkeiten beschützt werden. Die Gefahr wirkt unabwendbar, und indivi­duelle Maßnahmen scheinen aussichtslos: Warum die Schrankwand in der Wand ver­ankern, wenn das Gebäude kollabieren wird? Warum Wasservorräte anlegen, wenn es nach dem Erdbeben eh keine Zufluchtsorte gibt? Der Fatalismus hat längst auch die Mahner ergriffen. 

 

In Izmit, hundert Kilometer östlich von Istanbul, proben die Rettungsmannschaften den Ernstfall. Sie fräsen sich durch meterhoch aufgetürmte Betonplatten, Modelle von „pancaked buildings“, Häusern plattgedrückt wie Pfannkuchen, wie es in der Sprache der Katastrophe heißt. „Es ist wie damals“, raunt einer. „Nur der süßliche Geruch der Verwesung fehlt.“ In Izmit passierte am 17. August 1999 das, was Istanbul noch bevorsteht: Ein Erdbeben der Stärke 7,5 ließ die Anatolische Platte nach Westen rutschen. 17.480 Menschen starben, 285.000 Gebäude wurden beschädigt, 600.000 Menschen obdachlos, der wirtschaftliche Schaden belief sich auf rund 18 Milliarden Euro.

 

„Ich habe damals mit ein paar Freunden sechs Überlebende aus den Trümmern gezogen“, sagt Recep Şalcı. Das veränderte sein Leben. Er und die anderen 2200 Mitglieder der Rettungsorganisation AKUT arbeiten freiwillig, trainieren in ihrer Freizeit und an Wochenenden für den Einsatz. Şalcı, 49 Jahre alt, ist Lehrer für Geografie, er sieht müde aus. Heute arbeitet er bis spät in die Nacht am Einsatzplan für das Erdbeben in Istanbul, morgen früh muss er wieder vor seiner Klasse stehen. „Wir müssen noch härter arbeiten, um vorbereitet zu sein“, sagt Şalcı. Nie wieder ohnmächtig sein im Angesicht des Erdbebens, das ist sein Ziel. Mit einem Privatleben vertrage sich der dauernde Einsatz nicht, sagt Recep Şalcı, seit Kurzem lebe er in Scheidung.

 

Nach dem Erdbeben von Izmit wurde auch die staatliche Katastrophenschutzbehörde AFAD gegründet. Sie sollte das Katastrophenmanagement in der Türkei reformieren und betreibt mit rund 6000 Mitarbeitern nach eigenen Angaben das zweitgrößte Erdbeben-Überwachungsnetz in Europa, mit 1056 Überwachungsstationen im ganzen Land. Wie nah die Behörde ihrem Ziel bisher gekommen ist, lässt sich von außen kaum ermessen – weder für ein Interview noch für eine Stellungnahme stand AFAD zur Verfügung.

 

Im Ernstfall sollen beim staatlichen Katastrophenschutz die Informationen zusammenlaufen. Während des Bebens messen 120 auf Istanbul verteilte sogenannte Accelerografen die Bodenbewegungen. Daraus werden automatisch Karten generiert, die zeigen, wo die größte Zahl an Verletzten und Schäden erwartet werden. Die werden dann mit nichtstaatlichen Hilfsorganisationen geteilt, die die Rettungsmaßnahmen unterstützen. Bei AKUT rechnet man mit maximal zwölf Stunden, bis auch die Einsatzkräfte aus den entferntesten Provinzen angereist sind. Sie versammeln sich dann an Treffpunkten im Osten und im Westen der Stadt und schwärmen von dort ins zerstörte Istanbul aus. „Das ist es, wofür wir die ganze Zeit trainieren“, sagt Recep Şalcı. „Wir werden sie da rausholen.“

 

Celal Şengör schaut aus seinem Arbeitszimmer aus sicherer Entfernung über Istanbul, die Innenstadt ist hier gut 15 Kilometer entfernt, die Verwerfung 35 Kilometer. Er will es sehen, wenn geschieht, wozu er jahrzehntelang geforscht hat. Wenn die Erde vor Istanbul um fünf Meter nach Westen springt. „Die Nordanatolische Verwerfung ist wie ein Intelligenztest: Die Beben der vergangenen Jahrhunderte liegen da aufgereiht wie auf einer Perlenkette – nur die Perle vor Istanbul fehlt noch“, erklärt Şengör. „Keiner unserer Politiker besteht diesen Test.“

 

Der 64-jährige Geologe kann so offen sprechen, auch weil er weltweit anerkannt und bestens vernetzt ist: Neben seiner Professur an der Technischen Universität in Istanbul ist er Mitglied unzähliger hochrangiger wissenschaftlicher Vereinigungen. In seinem Arbeitszimmer hängen in Metall gefasste Lavabomben aus Ostanatolien von der Decke, darunter türmen sich Bücher auf Türkisch, Englisch, Deutsch, Französisch, seine Privatbibliothek zum Thema Geologie und Erdgeschichte umfasst mehr als 30.000 Bände. Die Faszination für den Boden unter seinen Füßen ergriff Şengör, als er als Kind Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ las. Heute wirkt er selbst wie jener eigensinnige Forscher, in dessen Figur er sich damals verliebte – ein Wissensbrunnen, in dessen Adern mineralogisches Blut fließt, wie es bei Verne heißt.

 

Wie sicher man am Rand der Verwerfung lebt, hängt maßgeblich von der Beschaffenheit des Bodens ab: besser auf festem Granit als auf weichem Sand oder Lehm. Der südwestliche Teil Istanbuls rund um den Flughafen Atatürk steht auf einer ausgetrockneten Lagune, der Boden dort könnte sich bei einem schweren Beben verflüssigen. Umfassende Erdbebentrainings erreichen nur die wenigsten Istanbuler, die meisten sind Schüler, denen das Verhalten in den ersten Minuten des Bebens nahegebracht wird: ducken und sich verstecken. Doch wie gefährdet ihr Zuhause ist, welche Stadtteile als Hochrisikogebiete gelten, wissen viele Bewohner nicht. „Es gibt keine Risikokarte, auf die ich mich verlassen würde“, sagt Şengör. „Außer auf meine eigene.“ Er lacht sein dröhnendes Lachen. Sein Haus steht auf festem Grund und ist mit Stahlträgern verstärkt. Er hofft, während des Bebens dort und nicht in der Stadt zu sein.

 

Natürlich gab es Bestrebungen, die Infrastruktur der Stadt erdbebensicherer zu machen, öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser und Schulen wurden entsprechend saniert, seit 2012 gibt es ein Gesetz, das die Erdbebensicherheit zur Pflicht macht. Doch um die gesamte Stadt umzubauen, fehlt es an Geld. Und wohl auch an politischem Willen. Viele hoffen, dass der neue Oberbürgermeister das ändern wird. Ekrem İmamoğlu von der kemalistischen Partei CHP erklärte während des Wahlkampfes, dass der Erdbeben­schutz ihm ein besonderes Anliegen sei. In seiner Sie­gesrede Ende Juni bat er die türkische Staatsregierung dann darum, bei der Vorbereitung auf das Erdbeben harmonisch mit ihm zusammenzuarbeiten. 

 

Wenn Ankara dieses Angebot ausschlage, sagt Celal Şengör, stehe nicht weniger als die Unabhängigkeit des Landes auf dem Spiel: »Istanbul ist der wirtschaftliche Motor der Türkei. Wenn hier alles in Scherben liegt, wird das gesamte Land mit einem Schlag von europäischer und internationaler Hilfe abhängig sein.« Jahrzehntelang hat Şengör öffentlich vor den Auswirkungen des großen Bebens gewarnt, heute ist er dessen müde. »Gemeine Menschen interessieren mich nur noch als Fossile«, sagt er. Er meint: Wer nicht hören will, muss fühlen. 

 

Vielleicht ist der Mensch nicht gemacht dafür, komplexe Gefahren zu erkennen und sich auf sie vorzubereiten. Ein Menschenleben ist nur ein Wimpernschlag im Angesicht der langsam knirschenden Bewegungen der Kontinentalplatten. Nur kurz nach einer Katastrophe, wenn die Erinnerung an den Schaden und das Leid groß ist, ist das Gefühl für Risiken klar. 25 Jahre hält diese Erinnerung bei Flutkatastrophen, wie eine Studie der Universität Prag zeigte, solange siedeln die Menschen in vorsichtigem Abstand zu den übergetretenen Wasserläufen. Nach zwei Generationen hat dieses Wissen seine Wirkung verloren.

 

Als Menschen sind wir sinnsuchende Wesen, und den Sinn kann man nur schwer in Statistiken und Wahrscheinlichkeiten erkennen. Wie lässt sich die Lücke zwischen katastrophalen Zukunftsszenarien auf der einen und konkreten Vorsichtsmaßnahmen auf der anderen Seite schließen? Experten der Risikokommunikation sagen, nur indem man die physischen und psychischen Auswirkungen der Katastrophen unmittelbar erfahrbar macht. Ihre Forschungen haben ergeben, dass uns eine uralte Menschheitstradition dabei helfen kann, das Katastrophenwissen über mehr als zwei Generationen hinwegzuretten: das Geschichtenerzählen. Das sollte nicht nur in Museen oder Geschichtsbüchern passieren, sondern möglichst direkt – je emotionaler, desto besser verfangen die Erzählungen, das haben psychologische und neurologische Studien gezeigt.

 

Um das Sprechen über traumatische Erfahrungen zu erleichtern, bringen etwa Zivilschützer in Japan die Bewohner verschiedener Gemeinden nach einer Katastrophe möglichst gemeinsam in Auffanglagern unter – das erhöht die Chancen, dass die Menschen damit beginnen, einander vom Überleben zu erzählen. Es lindert nicht nur das Leid der Betroffenen, sondern kann, glauben Kommunikationsexperten, auch zu Vorbeugemaßnahmen und einer besseren Risikowahrnehmung in der Zukunft beitragen.

Bei menschengemachten Katastrophen wie Kriegen ist uns dieser Mechanismus bewusst, gerade in Europa. Wir wissen, dass die Erinnerungen an die Gräuel der Kriege ein mächtiges Werkzeug sind – wir versuchen, künftige Generationen vor den Fehlern der vergangenen zu warnen. Auch Naturkatastrophen wie Erdbeben und Vulkanausbrüchen ist der Mensch nicht machtlos ausgeliefert. Verinnerlichen können wir diese Verantwortung mithilfe einer Gedenkkultur, die von den Katastrophen erzählt und dabei die Menschen fokussiert, nicht die Statistiken.

 

Denn es ist nicht die Zahl der eingestürzten Häuser oder die Wahrscheinlichkeit des nächsten Bebens, die uns das Risiko von Europas Zittern bewusst macht. Es sind Erzählungen wie die des 88-­jährigen Angelo Pesce, der sich als Kind mit einem Stuhl über dem Kopf vor dem glühenden Steinhagel des Vulkans schützte, während die Geschosse um ihn herum auf dem Boden aufschlugen und platzten. Wie die des portugiesischen Königs, der es aus Angst vor einem erneuten Erdbeben und Tsunami vorzog, in einem Palast aus Holz statt in seinem steinernen Stadtschloss zu wohnen. Wie die der Freunde aus Izmit, die sechs Menschen aus den Trümmern der zusammengefallenen Hauser zogen und seit­dem nicht mehr mit dem Retten aufhören.

Süddeutsche Zeitung Magazin 2019

FOTOS Rafael Krötz
CO-AUTORIN Julia Lauter