Einfach loslaufen

 

Eine simple Idee mit großer Wirkung. Wir reisten eine Woche lang planlos durch den Harz und ließen das Abenteuer ganz einfach passieren


„Die Route steht, der Proviant ist verstaut, die Wetter-App gecheckt...“, raunt eine männliche Stimme aus dem Radio, während ich meinen Rucksack packe. Ich fühle mich unangenehm angesprochen. Nein, die Route steht nicht, und die Wettervorhersage aktualisiere ich in den letzten Tagen zwar unentwegt, aber sie zeigt immer noch viel mehr dunkle Wolken mit Regentropfen an als strahlende kleine Sonnen – das Auf und Ab des Oktobers. Immerhin keinen Schnee mehr. „Für die anderen ist es nur ein Weg zum Picknick, für dich ist es Action.“

 

Da ist es wieder, eines dieser leeren Versprechen von Abenteuer, die mich überhaupt erst dazu gebracht haben, nun selbst aufzubrechen. Die Werbung ist voll von Nervenkitzel, Erlebnissen und unvergesslichen Momenten, die man sich für Geld kaufen können soll. Sie kranken alle an sich selbst, denn wie soll etwas ein Abenteuer sein, das jemand anderes für mich erdacht hat und bei dem es zur Not immer einen doppelten Boden gibt? Wir haben uns gemütlich eingerichtet in unseren Leben, mit 360-Grad-Komfortzonen zu Hause und seichten „Erlebnis- Paketen“ im Urlaub. Abenteuer, das Wort wird so inflationär gebraucht, dass keiner mehr wirklich weiß, was das eigentlich ist. Der Mann in der Radiowerbung sprach übrigens über ein Auto.

 

Ich möchte das echte Abenteuer erleben, weil ich glaube, dass es der Persönlichkeit guttut, aus der Bequemlichkeit auszubrechen und sich ohne Wenn und Aber auf das einzulassen, was da kommen mag. Dafür muss ich gar nicht weit weg. Denn es geht nicht um den Grad an Exotik, die ein Erlebnis umweht, sondern vielmehr um das Ausmaß an Gelassenheit, mit der man den Dingen ihren Lauf lässt. Und deswegen muss ich nun meinen ganzen Wohlstandsballast zu Hause lassen. Ich will raus aus der vorgefertigten Struktur der Tourismusveranstalter und weder in Gasthäusern schlafen noch mein Zelt auf Campingplätzen aufschlagen. Zuallerletzt schalte ich mein Handy aus und lasse es auf der Kommode liegen.

 

Einige Stunden später steigen der Fotograf Roman und ich im niedersächsischen Seesen mit 14,5 und 17,5 Kilogramm auf dem Rücken aus einer Regionalbahn. Die stark geschminkte Schaffnerin war über unsere Rucksäcke gestolpert und hatte uns geraten, beim nächsten Mal doch weniger mitzunehmen. Schon jetzt fallen wir auf: Es ist nicht vorgesehen, diesen Zug zum Reisen zu benutzen. Sich das Notwendigste auf den Rücken schnallen und loslaufen, das macht man hier einfach nicht. Feiner Nieselregen legt sich auf unsere Gesichter. Wir stehen nun am nordwestlichen Rand des Harzes, dem höchsten Gebirge Norddeutschlands. Ausgedehnte Wälder, wilde Flüsse, tiefe Schluchten – ein gutes Gebiet, um Abenteuer zu erleben.

 

Anfängerglück

 

Keine Pläne also. Wir blicken etwas unbeholfen von unserer Karte auf die Wegweiser am Straßenrand. Da baut sich ein junger Typ in beigem Kordsakko vor uns auf und überschwemmt uns mit Hilfsbereitschaft. Tobias zeigt uns den Weg zum Wald, bietet uns einen Schlafplatz an und eine Mitfahrgelegenheit in drei Tagen nach Dresden. Er gibt uns seine Nummer. Wir sind einigermaßen überwältigt und ärgern uns ein wenig, ihn nicht erst am Abend getroffen zu haben, denn jetzt müssen wir ja erst einmal aufbrechen. Aber: Nach nur etwa fünf Minuten Reise haben wir bereits eine Exit-Strategie. Sollte das Abenteuer Harz fürchterlich schiefgehen, dann könnten wir daraus ein Abenteuer Dresden machen. Keine Pläne zu haben, ist gut.

 

Beschwingt lassen wir die Ausläufer von Seesen hinter uns. Hinter einer Brücke erwartet uns gelb-orange Herbstromantik. Der Weg führt unweit der Straße an einem plätschernden Bachlauf entlang, rechts erhebt sich der Wald an einem steilen Hang. Regen hat in den vergangenen Tagen den Boden aufgeschwemmt, aus der Erde und aus modrigem Holz sprießen Pilze. Als es am späten Nachmittag zu dämmern beginnt, denke ich zum ersten Mal an einen Schlafplatz. Wenn wir es warm haben wollen, werden wir auf Leute wie Tobias angewiesen sein. Wie viele von denen gibt es im Harz?

 

Auf unserer Karte machen wir das Symbol von Schutzhütten aus und bleiben wenig später vor einer stehen. Eine Art hölzernes Tipi, genannt Köhlerhütte, oder im Harz „Köte“. Darin haben früher Köhler ausgeharrt, während sie mit Erde bedeckte Holzhaufen zu Holzkohle verglimmen ließen. Festgetretener Erdboden, eine Sitzbank, leere Flaschen und Müll. Puh. Ich spüre Unsicherheit in mir aufkommen. Es wird nicht leicht, sich von allen Zwängen loszusagen und auf den Zufall zu vertrauen. Abenteuer klingen vorher und nachher toll, mittendrin ist so etwas wie Anstrengung aber nicht beeindruckend, sondern einfach nur anstrengend. Noch ahne ich nicht, dass es eine Nacht geben wird, in der wir uns nach einer Köte sehnen werden. Keine Pläne zu haben, ist – geht so.

 

Wir entscheiden uns gegen die Hütte und beschließen, den Rest des Weges zum nächsten Ort zu trampen, um dort nicht im Dunkeln anzukommen. Bereits das dritte Auto hält, innerhalb weniger Minuten erreichen wir das 2000-Einwohner-Dorf Lauthental. Und dann kommt das Schwein. Es blickt plötzlich über uns aus einem geöffneten Fenster, als wir gerade einen Gartenzwerg auf dem Gehweg, der auf einer Schildkröte reitet, betrachten. Es grunzt und schmatzt und starrt uns aus den hohlen Augen einer Gummimaske an. Dann schließt es das Fenster wieder und lässt uns paralysiert zurück. Egal, wo wir schlafen, wir müssen das Geheimnis der Schweinemaske lüften. Das Fenster gehört zu einer zweistöckigen Gaststätte, und da gehen wir jetzt einfach mal rein.

 

Drinnen empfangen uns noch viel mehr Gartenzwerge, sitzend, stehend, schwimmend, ja, sogar erhängt, als Figuren, Malereien oder Lampen. Das Schwein enttarnen wir erst nach Stunden. Es ist der Wirt, aber das ist dann schon nicht mehr wichtig. An der Theke entspinnt sich eine Unterhaltung über Wildunfälle. Daneben sitzt Stefan, stämmig, finster und mit dunklen Ringen unter den Augen.

 

Wir kommen ins Gespräch, auf Spanisch, er spricht nur gebrochen Deutsch. Seine Wurzeln liegen in Rumänien, seine Heimat eigentlich in Spanien, nur gibt es da keine Arbeit mehr für ihn. Nun fährt er in Deutschland Lkw, um das Haus seiner Familie abzubezahlen. Fünf Tage die Woche schläft er unterwegs in seinem Lastwagen, an den restlichen Tagen sitzt er abends hier an der Theke, trinkt zwei Bier und fährt dann die wenigen Meter mit seinem Auto nach Hause. Er blüht auf, als er von seiner Heimat erzählt, von den Grillfesten, von der Sonne, von seiner Familie. Lauthental, das ist für den 51-Jährigen ein „sacrificio“, ein Opfer, damit er es später gut hat. Als er uns anbietet, bei ihm zu schlafen, weiß ich nicht, wen es mehr freut – ihn oder uns.

 

Bei ihm gibt es Bier, Cognac und Baileys auf Eis. Stefan ist einsam, jeden Tag, er würde jemanden umsonst in seiner Wohnung wohnen lassen, nur damit einer da ist. So fühlt sich also die Wirtschaftskrise an, denke ich, sie trennt und isoliert. „La vida es dura“, sagt Stefan immer wieder, das Leben ist hart. Er besteht darauf, dass wir in seinem Bett schlafen, seine Dusche wird für uns die letzte in den nächsten vier Tagen sein.

 

Am nächsten Morgen müssen wir nicht überlegen, wie es weitergeht. Stefan will uns die zwanzig Kilometer entfernte alte Kaiserstadt Goslar zeigen. Hutzelige Fachwerkhäuschen, ein Glocken- und Figurenspiel am Marktplatz alle drei Stunden, die Kaiserpfalz, eine Kutsche, eine Bimmelbahn. Stefan bietet uns an, die ganze Woche in seiner Wohnung zu bleiben, während er mit dem Lkw unterwegs ist. Wir verabschieden uns und schlagen auch die zweite Exit-Gelegenheit aus.

 

Werden sie unsere Gastgeber sein, die Einsamen, die sich über Gesellschaft freuen? Stefan ließ uns eine ganz andere Gastfreundschaft zuteil werden, als wir sie erwartet hatten. Sie war groß und bedingungslos. Ich begreife, dass Gastfreundschaft auch eine Last sein kann und dass ich eine Verantwortung trage, wenn ich einfach so in das Leben anderer Menschen trete. Ich erkenne aber auch, dass wir nicht nur nehmen werden auf dieser Reise – einen Schlafplatz, ein Abendessen oder eine Mitfahrt. Wir werden auch geben – Aufmerksamkeit, Abwechslung, Dankbarkeit. Wir hätten Stefan nie kennengelernt, wenn wir da geblieben wären, wo Touristen nun mal bleiben: in der dafür vorgesehenen Komfortzone. Stefan wäre dann auch an diesem Abend einsam gewesen. Es sackt die Erkenntnis: Hierbei geht es längst nicht nur um uns.

 

Langer Atem

 

Wir bleiben nicht lange allein. Als Roman in der Abenddämmerung sein Stativ aufbaut, werden wir plump von der Seite angequatscht: „Na, seid ihr auf der Suche nach guten pictures?“ Ein großer Typ, Glatze, schwarze Hornbrille steht vor uns. Er beginnt zu erzählen. Morgen, da wolle er ganz früh aufstehen, um wandern zu gehen, er mache nämlich die Harzer Wandernadel: „Ich bin Stempeljäger.“ Morgen wolle er elf sammeln, ungefähr 27 Kilometer, strammer Tag. – Hä? – Ja, ach so, überall im Harz seien Stempelkästen verteilt, als Ansporn zum Wandern. Wer alle 222 Stempel gesammelt habe, dürfe sich „Harzer Wanderkaiser“ nennen. 54 habe er schon, Eike heiße er übrigens. „Ey, der Harz ist wie geküsst. Wie ge-küsst!“

 

Formsache, dass wir bei ihm schlafen können. Bevor wir aber zu ihm nach Hause gehen, will er uns noch seine Lieblingsplätze in Goslar zeigen, für die guten „pictures“. Irgendwann verliere ich das Zeitgefühl, aber es müssen so an die zwei Stunden sein, die er uns begeistert von Gasse zu Hausecke zu Hinterhof führt. 1992 wurde die Altstadt mit ihren mehr als 1500 Fachwerkhäusern zum Weltkulturerbe erklärt. „Scheiße, ist das schön!“, ruft Eike nach jeder Straßenbiegung. Irgendwann wird mir kalt. Ich werde müde. Mein Rucksack wird schwer. Ich schlafe tief, später, in seinem Bett. Eike besteht darauf, er nehme immer das Sofa.

 

Da wir ja keine Pläne haben und Eike sehr große, beschließen wir, uns ihm anzuschließen. Zumindest fahren wir in die gleiche Ecke, Richtung Brocken. Der 1141 Meter hohe Berg ist der touristische Magnet im Harz. Da fährt auch die Harzer Schmalspurbahn hin, mit alter Dampflok und Pfeifen bei der Abfahrt. Eike findet, das sei „Touriquatsch“, da sei er noch nie mitgefahren. Als wir dann aber unseren Zug um sieben Uhr in der Früh verpassen, ist die beste Verbindung genau dieser Quatsch. Wir stellen uns gleich hinter die Lok, nach draußen. Dichte Dampfwolken hüllen die Äste über unseren Köpfen ein, Blätter und vereinzelte Funken fliegen uns entgegen, Eikes Augen tränen. Und dann muss er doch zugeben, dass er dieser Bahn vielleicht Unrecht getan hat. Es macht Spaß, scheiße, ja! Wir steigen eine Station vor ihm aus, er winkt uns aus dem Fenster, bevor wir in einer Menschentraube aus Touristen verschwinden, die die Bahn beim Stehen, Fahren und Dampfen fotografieren.

 

Es tut gut, wieder im Wald zu sein. Nicht reden zu müssen, den Duft der am Wegesrand aufgestapelten Fichtenstämme einzuatmen, über federnden Boden zu gehen. „Wildnis ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für den menschlichen Geist“, schrieb der amerikanische Naturforscher Edward Abbey. Natürlich ist das hier keine echte Wildnis. Der Wald wurde im 18. und 19. Jahrhundert mit schnell wachsenden Fichten aufgeforstet, nachdem der Erzbergbau die Laubbäume verschlungen hatte. Dennoch wirken diese schnurgeraden Stämme auf mich beruhigend, still und erhaben. Sie machen mich klein, und das ist gut so. Und noch etwas ist in mir passiert: Ich fühle mich frei. Ich kann gehen, wohin ich will, folgen, wem immer ich will, machen, was ich will. Es gibt kein Ziel, an dem wir ankommen, keine Route, der wir folgen und keinen Ort, den wir besuchen müssen. Keine Pläne zu haben, ist großartig.

 

Wir steigen hinauf zur Leistenklippe, einem gut 900 Meter hohen Felsmassiv. Umgekippte Baumstämme versperren den Weg. Borkenkäfer haben eine Reihe von Fichten in kahle Gerippe verwandelt, dahinter dichtes, dunkles Nadelgrün und buschiges Gras. Oben auf dem majestätischen Fels öffnet sich ein weiter Blick über den Harz – eigentlich. Im Moment versteckt sich selbst der Brocken hinter grauem Dunst. Eine muntere Wandergruppe schenkt Roman ein Würstchen und mir einen Schokoriegel. Zum Abschied gibt es noch einen Keks für jeden. Die Leute finden ganz toll, was wir machen.

 

Eine Idee, die so einfach wie alt ist, weckt bei fast jedem, der von ihr hört, Begeisterung – einfach loslaufen. Im Grunde ist das viel leichter, als aufwendig zu planen, zu buchen und vorzubereiten. Es bedarf nur einer Verschiebung der Wahrnehmung. Das Unbekannte, Ungewisse ist nicht schlecht, es ist nur ungewohnt. Nach nur drei Tagen Reise nehme ich meine Umgebung und die Menschen, denen wir begegnen, anders wahr. Alles ist eine Möglichkeit, alles kann potenziell mit mir zu tun haben. Mein Blick ist weit.

 

Frustrationstoleranz

 

An diesem Abend hat dann leider niemand mit uns zu tun, keiner will uns bei sich aufnehmen. „Da hätten wir uns vor zwei Stunden treffen müssen, jetzt bin ich zu betrunken“, lallt uns eine rothaarige ältere Dame zu, die mit ihren zwei Freundinnen heute auch wandern war, wie eine von ihnen erzählt: „Von Bar zu Bar.“ Immerhin eine Mitfahrgelegenheit für den nächsten Morgen bietet ein Paar uns an. Die beiden empfehlen uns dann auch, im Park zu schlafen, in der Köte. Der Kurpark sei einer der schönsten im ganzen Harz, sagen sie noch. In meinen Augen ist er dunkel und unheimlich. In dem kalten Lichtkegel der Taschenlampe wird jeder Baum zu einer potenziellen Köhlerhütte. Irgendwann nehmen wir Vorlieb mit der Veranda einer kleinen Holzhütte, die zu einer ehemaligen Minigolfanlage gehört, wie ein Schild an der Tür verrät. Jetzt ist sie geschlossen, wegen Wildschweinschäden. Wir breiten unsere Schlafsäcke auf dem Holzboden aus. Neben uns seilt sich eine Spinne ab. Ich fühle mich ausgestoßen und alleingelassen, die Nacht ist kalt und un­gemütlich. Etwas raschelt in dem Baum gegenüber. Mehrmals wähne ich die Wildschweine schon unmittelbar vor mir. Keine Pläne zu haben ist...

 

Im Morgengrauen identifiziere ich die Wildschweine als Eichhörnchen. Durchgefroren und verspannt machen wir uns durch den Regen auf den Weg zu unserer Mitfahrgelegenheit. Nach wenigen Kilometern im Auto überqueren wir die ehemalige deutsch-deutsche Grenze, der erste Ort, den wir danach durchfahren, heißt Elend, und so fühle ich mich auch. Als wir im „Höhlenort“ Rübeland aussteigen, hat der Regen zugenommen. Wir versuchen, weiterzutrampen. Kleine Kinder drücken sich auf den Rücksitzen ihre Nasen an den Fenstern platt und zeigen mit Fingern auf uns. Niemand nimmt uns mit. Als mein Daumen taub vor Kälte wird, geben wir auf. Jetzt ist es anstrengend.

 

Abenteuer erfordern Frustrationstoleranz und die Bereitschaft zur Akzeptanz eines Scheiterns, definiert der Wagnis­forscher Siegbert Warwitz. Es ist nicht so, dass ich nicht mit so einem Tiefpunkt gerechnet hätte, aber ihn jetzt auszuhalten, ist schwer. Wir helfen unserer Frustrationstoleranz mit heißem Tee und Suppe auf die Sprünge, danach fühlen wir uns bereit, durch den Regen zu wandern.

 

Fürsorge

 

Schon am Ortsausgang können wir nicht weiter. Da steht dieses bunt bemalte Haus unter einer Eisenbahnbrücke. Irgendwie schaffen wir es nicht, daran vorbeizugehen. Gerade haben wir uns durchgerungen zu klingeln, da geht die Tür auf. Hinaus tritt ein zotteliger bärtiger Mann in grauer Jogginghose und grünem T-Shirt, darunter ein runder Bauchansatz. Er sei auf dem Weg zum Einkaufen, aber sein Bruder sei da – „Robert, Besuch!“ Ein zweiter zotteliger, bärtiger Mann erscheint in der Tür, die Assoziation Zwerg drängt sich geradezu auf. „Habt ihr Angst vor Hunden?“, fragt der. Ich schaffe es gerade noch, zu murmeln: „Wenn sie keine Angst vor uns haben“, da schießen sie auch schon um die Ecke. Sie sind riesig, laut und ungestüm. Sie bellen, winseln, springen und lecken uns die Hände ab. „Satan, nun lass!“, ruft der Zwerg und zieht den schwarzen Riesen zurück, in dem auf jeden Fall ein großer Anteil Dogge steckt.

 

Das Wohnzimmer ist dämmrig, der Teppich abgewetzt, die Wände vergilbt, an ihnen schief aufgehängte Bilder und Schwerter. Ein Kachelofen verbreitet angenehme Wärme, es riecht muffig. Robert schenkt uns Orangenlimonade ein, der Glasrand ist dreckig. Ich will nicht unhöflich sein, schaffe es aber erst zwei Stunden später, davon zu trinken. Da sitzen wir dann schon gemeinsam beim Abendbrot. Robert und Erwin haben für uns entschieden, dass wir über Nacht bleiben. Sie sind 62 und 65 Jahre alt, und sie sind toll. Sie rühren Kakao an und geben mir den Platz vor dem Ofen. Unser Schlafzimmer ist das sauberste und ordentlichste im ganzen Haus, während der Rest eher einem Flohmarkt gleicht. Ich bin unendlich dankbar.

 

Sie machen alles zusammen, sieben Jahre lang fuhren sie mit einem Trecker und einem Bauwagen durch Frankreich, „Tour de France“, sagt Robert. In dem kleinen Laden nebenan verkaufen sie Mineralsteine, Robert imkert im Garten, Erwin schleift hin und wieder Edelsteine. So richtig gearbeitet haben sie kaum, es ging nie. Sie kamen beide missgebildet zur Welt, weil an ihrer Mutter im Konzentrationslager medizinische Versuche durchgeführt worden waren, erzählt Erwin. Er saß 14 Jahre lang im Rollstuhl, weil sein Fuß falsch angewachsen war, er wurde mehrmals operiert. Roberts Organe sind spiegelverkehrt. Die meiste Zeit ihrer Kindheit haben sie im Heim verbracht. Jetzt bekommen sie eine Entschädigungszahlung, viel Geld brauchen sie eh nicht. Das Haus haben sie vor elf Jahren für 2500 Euro gekauft, bis heute hat es kein fließend Wasser. Ihre Kleidung waschen sie nie, sie ziehen sie so lange an, bis es nicht mehr geht. Erst schockiert mich das, dann ist es mir egal. Die beiden gehören zu den gutherzigsten Menschen, denen ich je begegnet bin.

 

Zum Abschied schenkt Erwin uns einen Bergkristall und einen Amethyst, Glücksbringer. Robert gibt mir ein Glas selbstgemachten Honig mit. Sie bieten uns an, zu bleiben. Wir werden noch lange von dieser Begegnung zehren. Ich bin wieder überzeugt von dem, was wir hier tun. Manchmal muss es vielleicht erst schlecht werden, damit es richtig gut werden kann.

 

Kurze Zeit später treffen wir dann noch Marc, er nimmt uns in seinem Geländewagen mit. Er will diese Nacht im Wald schlafen, in seiner Hängematte. Dafür hat er alles dabei – Kocher, getrocknete Pilze, sogar ein Thermometer. Wir trennen uns.

 

Vor uns erstreckt sich das majestätische Bodetal. Leuchtend bunte Bäume säumen hier einen Fluss, der mal gemächlich, mal reißend seine Kerbe immer tiefer in den Granit schneidet, an manchen Stellen fast 300 Meter tief. Feuersalamander sollen zwischen den Felsen leben, der Sage nach auch Hexen, selbst der Teufel soll hier schon gewesen sein. An einem steilen Geröllhang entdecken wir wilde Mufflons. Sie wenden uns ihre Köpfe mit den geschwungenen Hörnern zu, erstarren einen Moment, dann rennen sie hastig davon.

 

Als wir nach einer knappen Stunde Fußmarsch vor einer Schutzhütte stehen, beschließen auch wir, die Nacht im Wald zu verbringen. Die Äste auf dem Boden sind nass, aber nach einer Weile brennt ein ansehnliches Lagerfeuer vor unserem Schlafplatz. Um uns herum wird es dunkel, es macht mir nichts aus. Die Nacht wird wieder kalt werden, Roman wird einem Tier gegenüberstehen, von dem er im Schein der Taschenlampe nur die leuchtend reflektierenden Augen erkennen wird, natürlich gibt es auch hier Wildschweine, sogar Luchse; all das macht mir keine Angst mehr. Ich fühle mich als Teil von allem, als Teil der Menschen und der Natur.

 

Dass der Effekt unseres einwöchigen Abenteuers so groß sein würde, hätte ich nicht gedacht. Aber tatsächlich hat sich meine Wahrnehmung verschoben, auch später noch, während ich diesen Text schreibe. Die Reise ist zwar vorbei, aber sie ist nicht zu Ende. Mit unseren neuen Bekannten halten wir Kontakt, bald wollen wir sie wieder besuchen. Wenn ich künftig auf Reisen gehe, will ich ebenso offen sein, wie ich es jetzt war. Auf Fremde zugehen, draußen schlafen, die Orte, an denen ich bin, wirklich kennenlernen, nicht nur ihre touristischen Fassaden. Es ist nun einfach, an die nächste Tür zu klopfen, in das nächste Leben einzutauchen. Und wenn ich nun einen Wald sehe, dann denke ich bei mir: Wie leicht wäre es jetzt, hinter den Bäumen zu verschwinden.

 

greenpeace magazin 2016